Blickweiten - Weitblicke
Gedanken von unterwegs
Teil 3
Unterwegs nach Puschkin (Zarskoje Selo)
7. (Puschkindenkmal in... nun ja... Puschkin.)
Bin im Elysium ich des Nordens, Ach, alles weckt mit Kummermiene (Puschkin - Erinnerungen an Zarskoje Selo/1814 (Auszug))
Puschkin ist eine Stadt etwas außerhalb von St. Petersburg, wo man das berühmte Bernsteinzimmer im Katharinenpalast betrachten kann und wo Puschkin selbst das Lyzeum besucht hat. Die Stadt hieß früher Zarskoje Selo, wurde zu Puschkins 100. Geburtstag umbenannt. Das war am 10. Februar 1937 und etliche Umbenennungen nahmen ihren Lauf. Das Puschkin-Jubiläum wurde zu einer reinen Staatsangelegenheit. Der damals neu auferstandene Puschkin, der Stalins Russland als neues patriotisches Idol galt, der in neuen Literaturausgaben, neuen Straßen- und Stadtnamen, in neuen Denkmälern zu bewundern war, verdeckte eigentlich nur die Verhaftungen und Verurteilungen etlicher Menschen und bestärkte den Stolz des Volkes auf Land und Partei. Puschkin und die Schauprozesse, die mächtigen Aufmärsche auf dem Roten Platz in Moskau und der durch Kunst, Politik und Machtinteressen gelenkte Jubel der Menge haben in Zarskoje Selo natürlich nichts zu suchen. Zumindest heute nicht mehr. Dort ist auch Anna Achmatowa aufgewachsen, doch natürlich vermittelt der Ort eine Ahnung an ganz andere Zeiten. Die Zarenfamilie verbeugt sich in aller Erhabenheit und jenem feinen Gespür für die Verherrlichung ihres Daseins, dem sie auch durch ihre Residenzen Ausdruck verliehen. Die heutige Stadt Puschkin wird sich kaum von der damaligen unterscheiden, sie wirkt noch heute wie in Büchern beschrieben, wie eine Märchenstadt mit unechten Kulissen, niedrigen Häuschen, Baum umringt, mit kleinen Straßen, Blaskapellen, Souvenirläden und schließlich prachtvollen Palästen.
Der Katharinenpalast wurde im zweiten Weltkrieg völlig zerstört, darum originalgetreu wieder nachgebaut. Schimmernde goldene Türmchen, Verzierungen und Spielereien, ein riesiger Schlosspark, die dreihundert Meter lange, barocke Fassade mit rhythmisch gegliederten weißen Säulen, vergoldeten Atlanten, Skulpturen, die mythologische Figuren, Dichter und Denker darstellen, und Fensterrahmen auf hellblauem Grund verschlugen einem regelrecht den Atem, und vor dem Eingang geduldete sich natürlich, wie erwartet, eine lange Schlange an Menschen. (Puschkin – der Katharinenpalast, darin das Bernsteinzimmer, das man leider nicht fotografieren durfte.)
Hier stand auch ich, die Sonne schien mir ins Gesicht, ich bewunderte die Architektur und blickte mich hin und wieder um, wenn Jubelschreie ertönten, weil ein Brautpaar sich auf den Stufen fotografieren ließ und dann mit Sekt auf das freudige Ereignis anstieß. Geschmackvolle Hochzeitskleider, wunderschöne Frauen, manchmal noch unglaublich jung, denen das Glück dieses Tages ins Gesicht geschrieben stand. Ich klatschte mit ihnen und winkte, wenn sie die Arme hoben. Aus Langweile zog ich irgendwann mit dem Fuß vor mir einen langen Strich in den Sand. Er bildete somit die Startlinie, von der aus ich bald voranrücken würde, sobald die Schlange sich vor mir verkleinerte. Ich sah, dass der Eingang von vier „Wächtern“ bewacht wurde, und alle zehn Minuten eine geringe Anzahl der Meute einließ. Ab und an kamen lärmende Reisegruppen an der Schlange vorbeimarschiert, wurden von neidvollen Blicken begleitet und an einer anderen Glastür sofort eingelassen. Die Busfahrt samt Führung hatte ich eigentlich auch in diesem Sinne geplant, bereits das Geld bezahlt, was mir viel Warterei erspart hätte, doch als ich am nächsten Tag meine Karte vorlegte, teilte mir die Mitarbeiterin des Busunternehmens mit, dass mangels genügend Leuten die Fahrt abgesagt war. Immerhin bekam ich wenigstens mein Geld zurück, was ja nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit ist.
Während die Minuten in Zehnerschritten verflogen, mein Blick über Köpfe, Parkanlage, Statuen, die verzierten Fenster streifte, die Schlange hinter mir immer länger wurde, kleine Gruppen der Anstehenden nach und nach weiter eingelassen wurden, mehrere Wartende sich in das Gras vor dem Palast legten, bis sie wieder hochgescheucht wurden – das Betreten des Rasens war verboten - sah ich erneut auf meine Füße und musste feststellen, dass ich keinen einzigen Schritt vorangekommen war. Die Linie lag noch unberührt und unüberschritten vor meinen Schuhen.
Das Bernsteinzimmer habe ich dann natürlich doch noch irgendwann in aller Ruhe auf mich wirken lassen. 1716 schenkte es der preußische König Friedrich Wilhelm I. Peter dem Ersten, der sich mit einem kleinen, in Petersburg gebauten Schiff, fünfundfünfzig Grenadiere, einer Dreh-Werkbank und einem eigenhändig aus Elfenbein hergestelltem Trinkpokal revanchierte. Als der zweite Weltkrieg ausbrach, wurde aus dem Palast etliches evakuiert, jedoch schaffte man es nicht mehr, auch die Wandtafeln des Bernsteinszimmers rechtzeitig zu entfernen, so wurden sie lediglich mit Tapeten überdeckt. Die Wehrmacht besetzte den Palast, demontierte das gesamte Zimmer, verpackte es in siebenundzwanzig Kisten und transportierte es nach Königsberg. Seit 1945 gilt das Bernsteinzimmer als verschollen, lediglich drei verbrannte Fragmente der florentinischen Mosaike, einen „Turm Möbel“ und eine Kommode wurden wiedergefunden und an Russland zurückerstattet, und dann begann die langwierige Rekonstruktion. 1999 erhielt das Museum auch das florentinische Mosaik „Tastsinn und Geruchsinn“ zurück, das vermutlich vor der Demontage der Tafeln gestohlen worden war. Das Zimmer wirkte sogar über sich selbst hinaus bis hinein in die Literatur, denn die Basis der Arbeit am neuen Bernsteinzimmer lieferten ausgerechnet alte Fotografien des Schriftstellers Theophile Gautier aus dem Jahre 1859.
Betritt man den Palast, fühlt man sich geblendet, schreitet über Treppen, Marmor, an Ornamenten und Spiegeln vorbei, unter mächtigen Decken und Deckenmalereien dahin. Der Palast wurde Katharina der Ersten geschenkt, Elisabeth die Erste passte ihn dem vorherrschenden Zeitgeschmack an und auch Katharina die Zweite lebte regelmäßig in Zarskoje Selo und ordnete wiederum neue Umbauten an. Sie alle hinterließen ihre Spuren und Geschmäcker, danach folgten auch noch die von Alexander dem Ersten und Nikolaus dem Zweiten. Raum an Raum gereiht, darin verzierte, blauweiße Öfen, geschritten durch verschiedene Speisezimmer, einem Porträtsaal, einem Gemäldesaal, wo auch immer man eintritt, verliert man sich. Gerade im Gemäldesaal als eine unfassbar barocke Hängung büßt man fast den Verstand ein. So kann man unter anderem ein Kleid aus Papier bewundern, das Letztere einst getragen hat, einige Salons und Esszimmer, wie natürlich auch die gesamte Zarenfamilie auf großformatigen Gemälden. Das Bersteinzimmer selbst ist eine detailgetreue Nachbildung des ursprünglichen Zimmers. Lediglich jenes eine Mosaik ist noch im Original erhalten. Und selbstverständlich ist darin wirklich alles aus Bernstein. Die Wände, Sockel, Säulen, Mosaiks, Ornamente und insbesondere mehrere Gemälde, die aus Edelstein und Bernsteinplättchen ein Motiv ergeben. In den Fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts fertigte der Steinmetz L. Siries nach Skizzen des Künstlers Zocchi in Florenz Mosaike mit den Themen der fünf Sinne an. Diese Mosaiken wurden statt Gemälde in die Bernsteinrahmen gefasst. Neben „Tastsinn und Geruchssinn“ an der Südwand, findet man „Geschmackssinn“ an der Ostwand und „Sehsinn“ an der Nordwand. Die Details sind unglaublich fein gearbeitet, unter durchsichtigem Bernstein liegen Zeichnungen, die durch den Stein durchschimmern. Gesichter, Figuren und Mosaik zeugen von der enormen künstlerischen Arbeit, die hier geleistet wurde. Fotografiert werden durfte nicht, das Herantreten war strengstens verboten. Das übliche Seil trennte den Betrachter von der Herrlichkeit solch wertvoller Kunst. Gruppe für Gruppe wird durch den Palast geführt, während unsere Führerin die Geschichte der einzelnen Räume erzählte, erklang bereits die sonore Stimme der nächsten.
Als ich wieder an die frische Luft trat, schwirrte mir der Kopf. Für den Alexanderpalast reichte die Zeit nicht mehr, was mich aber kaum belastete. Durch den Park schlenderte ich Richtung Ausgang und spürte, wie sich der Kopf allmählich leerte. Sich auszumalen, in solchem Luxus zu leben oder wie überhaupt so leben, das übertraf all meine Vorstellungen. Aus Filmen und Fotografien kann man in etwa nachvollziehen, wie die Zarenfamilie sich präsentierte, speiste, sich langweilte, vergnügte, doch für mich, müsste ich tagtäglich diese Räume durchschreiten, würde es wohl im Bernsteinzimmer enden, als eine ewige Betrachtung in Form und Kunst gemeißelten Prunks feinster Genialität. 8. Der klaftertiefen Metro entstiegen, stehe ich gleich darauf auf dem Newski Prospekt und begaffe diesen in der Literatur so häufig beschriebenen Platz.Hier ist alles gemacht und gepflegt, restauriert und für das Auge bereinigt. Man gerät fast zugleich in den Strom der Menge, der zügig voranrückt.
Schräg vor mir ist das Dom Kniga, ein übergroßes, uraltes Büchergeschäft, einst das Gebäude der Firma „Singer“, das auch in der Nähe (doch was ist hier schon Nähe bei dieser Gewaltigkeit der Stadt) des „Philosophenschiffs“ liegt, dem berüchtigten und von Gorki ins Leben gerufenen „Haus der Künste“, ein Labyrinth an verschachtelten Zimmern, in denen verschiedene Künstler und Literaten in den Zwanzigern gegen Hunger, Kälte und Wasserknappheit kämpften und auch ihr Leben ließen. Dort entstand die Künstlergruppe der Serapionsbrüder, dort lebten Dichter und Schriftsteller wie Mandelstam, Grin, Samjatin. Blickt man nach rechts, sieht man die Blutskirche in ihrem ganzen Glanz, ein Ort, wo das Attentat auf den Zaren verübt wurde, so dass als Dank für sein Überleben die Kirche errichtet wurde. Innen sind unzählige, kunstvolle Mosaike, die sich über alle Wände und Höhen und Decken erstrecken. Prachtvoll und gleichzeitig so modern bunt, da alle Farben und Zerstörungen wieder restauriert und ausgebessert wurden. Auf Fotografien kann man die Kriegshinterlassenschaft betrachten, als diese Kirche fast in ihren Ruinen lag. Die Fliesen zertrümmert, Holzbalken, die kreuz und quer über dem Boden im völligen Durcheinander liegen. Zerschmetterte Fenster. Oh schönste Glas- und Glaubenskunst. Eine Bombe, die nicht hochgegangen ist, die als zerfressenes Metall von Staub bedeckt aus dem Stein ragt. Trifft man auf derartige Geschichtsprozesse der Zerstörung, schüttelt man traurig den Kopf ob des Verlustes an Menschenleben, Kunst, Literatur und Architektur, betrachtet schwarzweiße Fotografien an Trümmern und Gänge, die kaum dem heutigen Vergleich standhalten und muss gleichzeitig (und mit einem Anflug an Erleichterung) an Moskau denken, wo etliche Kirchen ganz und gar abgerissen und gesprengt wurden, weil Stalin sein „neues Moskau“ errichten wollte, dass Kunstwerke und Architektur massigen Riesenkomplexen weichen mussten, als Sinnbild des „neuen Glaubens“. Die einstigen Schäden sind nun nicht mehr zu erkennen. (Ansicht Blutskirche, direkt am Newski Prospekt, in der Nähe der Metro) (Innen, die Mosaike) Von hier aus treibt es mich natürlich sofort zur Eremitage. Man läuft eine Weile und biegt dann rechts ab, gerät in einen Innenhof und durch eine Art Triumphbogen (siehe Bild 2) auf den Vorplatz des Winterpalastes. (Bild 1 – Vorplatz mit Blick auf die Eremitage) (Bild 2 – Gang durch den Triumphbogen) (Bild 3 – Vorplatz zur Eremitage)
Direkt in exakter Achse zum Triumphbogen, sobald man ihn durchschritten hat, erhebt sich die Alexandersäule, wie man es in vielen, weltweiten Städten beobachten kann. Erblickt man einen Triumphbogen, ein Tor oder ähnliches, ist nicht weit davon entfernt ein Obelisk oder eine sehr hohe Säule zu finden. Tiefgreifende Symbolik von männlich-weiblichem Charakter mit gegensätzlich aufeinander wirkenden Energien eines, wollte man den leicht abweichenden Vergleich dennoch wagen, Yin und Yang Verhaltens. Die Alexandersäule schmückt genau in der Mitte den Vorplatz des Winterpalastes, wurde nach dem Sieg der Russen gegen das napoleonische Frankreich erbaut. Ein Meisterwerk der Architektur, wie so vieles in dieser Stadt. Auf der Säule befindet sich ein Engel, der Züge von Alexander dem Ersten trägt und ein Kreuz zum Himmel erhebt. Fast wäre aus dem reinen Engelsgesicht zu gewissen Zeiten das Stalins geworden, zum Glück kamen diese Pläne nie zur Durchführung.
Ich habe ein erstaunliches Glück, da in der Eremitage gerade eine Picasso-Ausstellung stattfindet, die sich über mehrere Ebenen und Räume erstreckt. Wenn z. B. im Ludwig Museum oder noch besser (ist natürlich kein wirklicher Vergleich) im Wallraf-Richartz-Museum eine Ausstellung der Impressionisten stattfindet, dann werden die im festen Bestand enthaltenen Bilder nach unten in die Ausstellung geholt. Die St. Petersburger haben das nicht nötig. Während die Picassobilder an etlichen Wänden, in mehreren Räumen hängen, darunter die blaue Periode, das Bild seiner Frau Olga, seine kubistischen Phasen, alle Bilder von einem einzigen Sammler entliehen, so besitzt das Museum natürlich auch noch zwei weitere Räume, mit festem und unangetastetem Bildbestand, die man nach all den gekeuchten Durchgängen dann noch zusätzlich bewundern kann. Auch er hängt hier, wie selbstverständlich, Matisse in den gewaltigen Farben seines „Tanzes“. Nun wundere ich, wie sehr sie leuchten und auch über die Größe, die mich ähnlich wie sein Bild „…“ im Centre du Pompidou in Paris bereits erstaunte.
Man kann sich unter bestimmten Maßangaben dann einfach keine genaue Vorstellung machen, wenn man sich die Bilder z. B. in einem Katalog oder Buch betrachtet, und steht völlig überwältigt vor riesiger Leinwand. Die Räume, in denen die Moderne hängt, sind eher leer. Die, die vertreten sind, findet man „raumweise“, nicht „bildweise“. Von Renoir bis Sisley, Cezanne und Gauguin.
Zuvor spazierte ich durch die verschiedenen Epochen, durch russische, flämische, niederländische, spanische, italienische Kunst. Vor Ribera und Murillo fiel ich fast auf die Knie. Diese Größe und Genauigkeit. Dieses so lebendige, weiße Fleisch. Auch ein Caravaggio war zu sehen – „Der Lautenspieler“.
Manche Bilder sind so gewaltig, dass man die eigene Nichtigkeit verspürt. (Italienische Kunst – „Der Lautenspieler“ von Caravaggio, an der Tür orientiert und auf sie geblickt, ist das untere, zweite Bild links.)
All diese Säle ließ ich nur ungern hinter mich. Auch ohne die Bilder erstrahlten sie in ihrer Prächtigkeit, mit ihren kunstvollen Decken und schönen Böden. Die alten Meister sprachen mich fast noch mehr an als die Moderne, aber vielleicht auch nur, weil die Bewunderung für diese Art der Malerei keine Grenzen hat, man auf einem Bild so viel vorfindet wie auf zehn der folgenden Perioden. Geschichten über Geschichten. Die Bibel, vor uns ausgebreitet. Menschen, so lebendig, dass sie aus dem Bild zu springen scheinen. Später, im russischen Museum, wo ich auf die russischen Realisten treffe, wird mir durch den Schädel fahren, dass, hätten diese Meister die Welt erobert, die Fotografie vielleicht bis heute noch nicht existieren würde.
Gerade treffe ich auf einen neuen Raum - ohne Plan kann man sich in der Eremitage schnell verlaufen, sie erscheint mir so groß wie der Louvre, und wenn man leicht schusselig ist, gerät der Weg auch schon einmal ins Unbekannte – auf einen Raum also, in dem nach den ganzen Rodins noch eine Fotoserie von Picasso und über Picasso hängt, die ich Bild für Bild abschreite, als auf einmal das gesamte Licht abgeschaltet wird und man regelrecht im Dunklen steht. Jedes einzelne Bild ist für sich mit kleinen Lampen ausgeleuchtet, so dass unter diesen Umständen die Bilder auf einmal völlig schwarz und unkenntlich sind.
(Innenhof, wo man auch den Eingang ins Museum findet.)
(Seite der Eremitage, geradeaus geht es zur Newa.)
Auf dem Vorplatz, der sich endlos vor den Augen erstreckt, ebenso wie dieser riesige grüne Palast mit seinen Skulpturen und Verschnörkelungen, um den man herumgeht und schnellen Fußes mindestens eine halbe Stunde benötigt, stehen Kutschen und Menschen in Kostümen, die bekleidet mit den Prachtgewändern vergangener Zeit herumstolzieren. Man kann sich mit ihnen fotografieren lassen, gegen Aufpreis, das versteht sich von selbst. Die Kleider der holden Weiblichkeit sind wunderschön verziert.
Der Platz wird bereits vorbereitet, ein Konzert wird stattfinden, bis die weißen Nächte zu jener Nacht werden, in der sämtliche Schüler und Studenten von ganz St. Petersburg ihre Abschlüsse feiern, die Nacht zum Tage wird und die gesamte Stadt auf den Beinen ist, um das Schiff mit den roten Segeln zu bewundern.
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Teil 4
9.
Was also sind die weißen Nächte genau? Man kann nicht sagen, dass die Nacht einfach trüb wird oder auf eine einzige als die Weiße reduziert werden kann. Mehrere Tage lang geht die Sonne ganz einfach nicht richtig unter, was bedeutet, dass man um 23 Uhr oder Mitternacht aus dem Fenster blickt und denkt, es wäre drei Uhr nachmittags. Das verwirrt natürlich, sowohl im eigenen Zeitgefühl als auch in der Müdigkeit. Taghell ist die Nacht, der Himmel blau, und der Schlaf lässt auf sich warten. Erst in den frühen Morgenstunden wird es leicht dunkel. Ich habe überhaupt sehr wenig geschlafen. Wir waren zunächst zu viert in der Wohnung (meine Großmutter besitzt lediglich drei winzige Zimmer), so schliefen zwei in einem Zimmer, ein weiterer auf der Couch im Wohnzimmer und sie eben in ihrem Schlafzimmer, wo nicht selten bis zum frühen Morgen das Licht brennt, weil sie lange zu lesen pflegt. Das Bad und die Toilette sind auf zwei Räume aufgeteilt und unheimlich klein, dass man sich kaum drehen kann. Doch die Wohnung samt ihrer Ereignisse unterliegt einem beständigen Wandel, denn die Russen sind feierfreudige Menschen, und wenn die Enkelin schon einmal zu Besuch ist, dann wird die gesamte Verwandtschaft, Bekanntschaft und Nachbarschaft eingeladen. Das bedeutet, die Zimmer werden neu zugeteilt, die Betten neu belegt, denn jene Bekannten und Verwandten kommen von weit her, reisen von Datschen und Vororten an und können nicht am selben Abend zurückfahren. Leicht kann es passieren, dass man einige Nächte lang das Bett teilen muss. Das kostet schon einiges an Überwindung, gerade, wenn man sich an keinen erinnert, weil man selbst beim letzten Treffen mit der Bekanntschaft gerade einmal zehn Jahre alt war, von jedem unbekannterweise umarmt und geherzt wird, natürlich die obligatorischen Kind-Erwachsensein-Vergleiche über sich ergehen lassen muss. Dann wird gespeist und getrunken, und jeder sitzt am Tisch und referiert reihum einen Trinkspruch, die Leute haben viel zu sagen. Da fließt Dank und Gruß, Bewegtheit und Geschichte, auch so manches Gedicht über die Lippen, man umarmt sich erneut, und die Stimmung ist laut und ausgelassen, während am blauen Himmel gegen Mitternacht blaß der Mond zu sehen ist. Die Gläser werden immer wieder neu mit jener klaren Flüssigkeit gefüllt, bis jemand den Selbstgebrannten hervorholt und versucht, die Leute zum Trinken zu nötigen, um herauszufinden, wie sein Gesöff wohl wirken mag, wobei es hier ratsam ist, sich schnell auf die Toilette oder auf den Balkon zurückzuziehen, während der Balkon die schlechtere Wahl ist, man dort umzingelt von Gerümpel und alten Säcken steht und irgendwie dann doch nicht richtig entkommt. Ablehnen aber ist unhöflich, genauso wie der totale Suff, es sei denn, sie versinken alle gleichzeitig darin. Dann holt einer die Gitarre hervor und zusammen werden russische Volkslieder in die helle Weite getragen, bis die Wangen von innen glühen, die bevorstehende Nacht der Enge keine Rolle mehr spielt, man Geschichten erzählt, sich mit Salaten, Bilischi, Pelmeni (die werden in vielen Cafés und Restaurants übrigens in kleinem Töpfchen serviert, mit einem Klecks Smetana (saure Sahne, die aber anders schmeckt als die, die wir kennen)), mit Krebsfleisch, roter Bete und Fisch vollstopft, um all das Flüssige irgendwie zu kompensieren, und der Blick allmählich glasig und schielend wird. Doch man kommt, ob man will oder nicht, kaum um diese Sitte herum, da wird immer wieder aufgetischt, wie wenig auch ansonsten da ist, die Leute sind fröhlich und zeigen, wer alles geheiratet, wer alles Kinder bekommen hat, kurz: wer sie sind. Bescheidene und trotz aller Widrigkeiten lebensfrohe Menschen, die man schnell ins Herz schließt und wenn man wieder fährt, lange zu kennen glaubt. Meine Großmutter besitzt wenig Geld, hat lange bis ins Alter gearbeitet und bezieht eine magere Rente, die für nichts ausreicht. So geht es vielen Russen, aber ich habe auch andere erlebt, Architekten, die einige Angestellte, ein schönes Auto und zwei Büros besitzen. Diese können es sich leisten, den Touristen herumzukutschieren und ihn mit Insider-Informationen zu versorgen. Armut aber ist immer sichtbar. Sie zeigt sich im Staub, in den Wänden, in den Gesichtern. In Gewohnheiten und sogar in Zähnen. Der Zusammenhalt dieser Menschen ist groß, auch wenn es immer Schwierigkeiten gibt. Obwohl keine Bindung zwischen der Frau und meiner Großmutter mehr bestehen müsste, kümmert sie sich, so gut sie kann, trotzdem um sie. Was einst war, wird nicht einfach gelöst. Nicht einmal, wenn jemand stirbt. Ihr neuer Lebensgefährte hat seine Macken, die nicht leicht zu verdauen sind. Der Suff zerstört die Menschen, hat sowohl den einen das Leben gekostet, wie dem anderen etwas vom Leben genommen. Ich hatte viel Zeit, die Umstände, das Leben meiner Großmutter zu beobachten, Einblick in ihren Alltag zu erhalten. Diese Frau ist ein reines Phänomen, gerade wenn ich dagegen andere, gleichaltrige Frauen betrachte. Sie hat so vieles erlebt, vor zweieinhalb Jahren eben jenen Überfall, wo der Einbrecher sie nicht nur berauben wollte, sondern auch noch hochheben und gegen die Wand werfen musste, als würde eine alte Frau eine unsagbare Gefahr bedeuten. Meine Großmutter ist, durch ihr Leben geprägt, recht knauserig geworden und lässt sich wenig schenken oder kaum helfen. Wenn man eine Wurstsorte (irgendeine russische, recht schmackhafte Salami) kauft, die sich um fünfzig Cent von der Sorte unterscheidet, die sie sich sonst alle drei Monate in gezählten Stücken gönnt, dann wird sie ungemütlich und erklärt, man würde prassen. (Gleichzeitig aber, sobald sie sich daran gewöhnt hat, langt sie dann ordentlich zu, schneidet sich dicke Stücke ab, als ob das Schimpfen lediglich die Tradition erfordert.) Man kann sie auch nicht austricksen, denn sie kennt alle Preise. Das ist in vielen Situationen so, z. B., wenn man überlegt, weil man wenig Zeit hat, ein Taxi zu rufen, statt auf Bus und Bahn zurückzugreifen. Dann schüttelt sie erbost den Kopf und nennt die zahlreichen Busnummern, die alle in die gewünschte Richtung fahren, und man kann es irgendwo verstehen. Die andere Wand des Wohnzimmers schmückt ein reichhaltiges Regal voller Konvolute von Dostojewskij, Tschechow, Leskow, Tolstoi, Gogol, Bulgakow, Veresaev, aber auch Jack London und Remarque. Diesen liebt sie. Sie liest ihn immer, wenn sie sich traurig fühlt, besonders gerne „Drei Kameraden“, und wenn dann die Tränengewalt aufgrund der tragischen Geschichte hervorbricht, fühlt sie sich wieder besser. Ein Selbstreinigungsprozess. Diese eine weiße Nacht, auf die alle St. Petersburger ungeduldig warten, die Nacht der purpurnen Segel, gestaltet sich folgendermaßen: Man geht etwa gegen 20 Uhr abends von der Metro Richtung Eremitage. Schnell erkennt man, dass der Vorplatz zum Winterpalast, den man zuvor durch den Triumphbogen erreichte, gesperrt ist, da dort ein Konzert für die Schüler und Studenten stattfindet, wobei von der Bühne sowohl gesungen als auch ein Hoch auf das Wohl und den Erfolg der Schulabgänger ausgerufen wird. So muss man, ist man nicht Schüler oder Student, ganz außen herum und gelangt, über eine Straße hinweg, in einen Park, der an die Newa angrenzt, auf der sich die einzig offene Brücke befindet, von der aus man das Schiff mit den roten Segeln sehen kann. Pünktlichkeit macht sich hierbei bezahlt, gleichzeitig sollte man an so einem Tag darauf verzichten, sich zuvor mit allerlei anderen Besichtigungen zu vergnügen und herumzuschlagen, was ich natürlich nicht beherzigt habe.
(Brücke, mit der Kunstkammer im Hintergrund, auf der bald die Massen auf das Segelschiff warten.)
Warum nun ein Frühkommen so sinnvoll ist, erklärt mir ein Einheimischer, ist das auf diese Weise Sichern bester Plätze, damit man überhaupt etwas sieht. Man ist hier durchaus nicht alleine (weil ich kurz an so manchen Deutschen denken muss, der sich mit dem Handtuch um vier Uhr morgens seine Strandliege sichert), die Russen handhaben das grundsätzlich und jedes Jahr in dieser Form. Sie kehren nach Feierabend kurz in ihre Häuser zurück, machen sich frisch und ziehen am frühen Abend los, samt Kindermeute und Bekanntschaft, bringen ihre Getränke und Chips direkt in einer Plastiktüte mit. Alexander Grin schrieb 1923 den Roman „Alyje Parusa“, ein sehr beliebtes Jugendbuch, das die Grundgeschichte erzählt. Ein Mädchen namens Assol wächst unter Fischern an einer rauen Meeresküste auf. Eines Tages verkündet ihr ein Märchenerzähler, dass bald ein Schiff mit Purpursegeln am Horizont erscheinen werde und damit den Grundstein für eine große Liebe und ein besseres Leben legen wird. Seitdem wartet sie auf dieses Schiff, ohne auf den Spott der anderen zu hören. Gleichzeitig träumt ein Junge namens Grey von der Seefahrt. Er wird Kapitän auf einem eigenen Schiff und erfährt eines Tages die Geschichte des Mädchens Assol. So bricht er auf, um das Märchen wahr werden zu lassen.
Ich kann es noch kaum glauben, denn die Brücke ist sporadisch mit Leuten besät, natürlich ist das Geländer zum Fluss hin schon dicht besiedelt, aber im Vergleich zur Größe der Brücke wirkt alles noch leichtlebig und unvorstellbar, dass sich bald darauf so viele Menschen tummeln werden. Wir ergattern einen guten Platz, stehen also an diesem Geländer und… beginnen zu warten. Es ist gerade einmal einundzwanzig Uhr, das Schiff soll in zwei Stunden losfahren. Ich fluche leise vor mich hin, bin die ganzen Tage so viel gelaufen, dass mir die Beine unerträglich schmerzen, ich kaum noch stehen kann. Ich male mir aus, wie lange zwei Stunden sind und bemerke, wie sich meine Augen weiten, wie irgendetwas darin sich langsam bis in meinen Hinterkopf zurückzieht und einen leichten Schwindel bewirkt. Zwei Stunden gehen so schnell vorbei, hat man ein Buch dabei oder irgendeine Beschäftigung. Mir aber hier klarzumachen, dass ich nun zwei Stunden auf die Newa starren werde, dazu schon jetzt tierisch erschöpft bin, keine Möglichkeit habe, mich irgendwo hinzusetzen, sondern gezwungen bin, den Platz zu halten, das Geländer mit der mir geratenen guten Sicht beständig zu besetzen und stets im Auge zu behalten, erscheint mir leicht unheimlich.
Was soll’s, denke ich mir schließlich. Stehen und die Stadt betrachten. Mal einfach so, ohne besonderen Anlass oder irgendein Ziel. Die Schiffe bewundern. Auch darin kann Muße liegen. Die Gedanken fliegen mir durch den Kopf, von all dem, was schon war und all dem, was noch kommt, wobei letzteres keine klaren Konturen annimmt. Doch was sich auch immer anbahnen mag, ich fühle mich bereit.
An den Kiosken wird jetzt kein Bier mehr verkauft, wohl um übermäßige Unruhe zu verhindern. Es gibt einige Eiswagen, bei denen man alkoholfreie Getränke und eben Eis kaufen kann. Die Menschen bringen sich ihre Getränke selbst mit. Man sieht bereits einige mit riesigen Flaschen, in denen Wodka, Rum mit Cola und anderes gemischt ist, die nur halb gefüllt sind. Die Jugendlichen sitzen auf den Balustraden und lachen, lassen die Beine baumeln, die Familien und anderen Menschen suchen sich ihren Platz auf der Brücke. Ich blicke weiter auf das sprudelnde Wasser der Newa, bestaune einige schnell dahin rasende Boote, ab und an kommt auch ein Schiff mit einer ganzen Meute feiernder Schüler vorbei, die uns zuwinken, laut jubeln und grölen und ihre Gläser schwingen. Man erklärt mir, dass die Eltern lange Geld sparen, um ihren Kindern diese Feier auf einem Schiff zu ermöglichen. Die meisten können sich das natürlich nicht leisten. Selbst die Schiffe unterscheiden sich, so sieht man die Schülermeute sowohl auf Ausflugsschiffen wie auch auf zerfallenem und rostigem Tuckerkahn mit eigenem Kapitän. Auch kommen richtig elegante Yachten vorbei, darauf dann lediglich zwei oder drei Menschen, manchmal noch umzingelt von ihrem Personal. Sie suchen sich vom Wasser aus einen guten Platz, müssen sich beeilen, denn nachher wird auch der Fluss, wie schon zuvor die Straße, gesperrt. Die Peter Paul-Festung glänzt mit ihren goldenen Kuppeln und Türmchen, davor ist eine lange Schiene mitten ins Wasser gesetzt, auf der gerade einige Flammen nacheinander hochschießen. Wusch. Wusch. Wusch, tönen sie bis an mein Ohr. Die Raketen und Zündungen des bevorstehenden Feuerwerks werden noch einmal überprüft, nichts darf schief gehen. Ganz im Hintergrund erkenne ich die blaue Kuppel der Moschee, die in der Nähe des Leninbalkons liegt und die ich später bewundern werde.
Dann fällt mein Blick auf die Eremitage in ihrer ganzen, abendlichen Schönheit.
Ich überlege kurz, wie schön es wäre, wenn ich irgendwo auf ihrem Dach stände und von dort die Aussicht genießen könnte. Ob durch diese edlen Räume jemand schlendert, wenn niemand mehr da ist, wenn die Tore verschlossen sind? Was für ein Genuss muss es sein, in diesem Prachtpalast von Raum zu Raum zu spazieren und inmitten der geballten Kunst zu schwelgen, während kein anderer Schritt stört, danach auf das Dach zu steigen und zwischen Neptun und anderen Statuen das Schiff mit den roten Segeln zu betrachten. Ich würd’s mir gefallen lassen, denke ich belustigt. Tatsächlich sehe ich zwischen zwei Statuen wirklich eine Silhouette, die sich aber so selten bewegt, dass ich nicht genau weiß, ob die Bewegung nun meiner Einbildung oder der Wirklichkeit entspringt.
Ein weiteres Spektakel auf der Newa ist das Hochgehen aller Brücken, die sich nach und nach öffnen, um die großen Schiffe durchzulassen. Als Kind habe ich diesem Ereignis einmal beigewohnt. Ich spekuliere, welches der auf dem Fluss liegenden Schiffe wohl das besagte Segelschiff sein würde, entdecke zwei in Frage kommende Schiffe, deren Masten sich dreifach nebeneinander erstrecken. Später erfahre ich, dass es sich weder um das eine noch um das andere handelt. Eines davon ist sogar ein fest im Hafen liegendes, wunderschönes Schiff, das ein Restaurant ist und nicht weit von der Aurora liegt. Eine der Brücken aber, das weiß ich, wird sich öffnen, und darunter hervor wird das Schiff seinen Weg nehmen, seine Kreise ziehen und dem Jubel der Menschen begegnen. |
Unter der Brücke, auf der wir stehen, fährt auf einmal ein riesiges Schiff hindurch, das aussieht, als würde es eines dieser großen Rundfahrtschiffe sein. Ich finde, sie sind etwas spät dran, zudem wundere ich mich, da ich noch am Vormittag erfahren habe, dass am heutigen Tag keine Schiffstouren mehr stattfinden. Sowohl das Jazz-Schiff, wie auch die Fahrten nach Puschkin fallen ins Wasser. Ich hatte wirklich Glück, mich für den Katharinenpalast mit seinem Bernsteinzimmer noch rechtzeitig entschlossen zu haben. Einen Tag nach mir wurden der Park und der Palast für zwei Wochen geschlossen. Auf dem unter mir langsam dahin gleitenden Schiff erkennt man wuselnde Bewegungen von in weißem Hemd und schwarzer Hose gekleideten Personen, die mir wie Kellner erscheinen. Es sind etliche und ihre Handlung ist hektisch. Sie rennen rein und raus, springen über die Balustraden und Geländer, lassen Eimer ins Wasser und ziehen diesen wieder hinauf, um das Deck zu säubern.
(Newa)
Rechts von ihm liegen zwei Anlegestellen, und nachdem das Schiff sich mehrfach verschieden platziert hat, kommt in mir der Verdacht auf, dass der Kapitän das Anlegen nicht allzu gut beherrscht. Das Schiff kommt und kommt nicht voran, sondern schwankt leicht hin und her, eine halbe Stunde vergeht, ohne dass etwas passiert oder auch nur eine der Anlegestellen erreicht ist. ndlich!“, wir rücken alle leicht zusammen, irgendeiner knurrt nicht weit von meinem Ohr entfernt, bis beide Mädchen sich in die winzige, kurz gebildete Lücke am Geländer quetschen. So stehen wir, etwas gedrängter. Alle reden wild durcheinander. . Nach einigen Minuten fährt ein erstes, größeres Boot vor.
ubt abbremsen, wenden und wieder Gas geben. Im Hintergrund wird der Fluss für alle anderen Wasserfahrzeuge gesperrt, so dass nur noch Polizeiboote, das gewaltige Schiff der Elite und das Schnellboot zu sehen sind, das seine Show vollführt, nicht für uns, die Zuschauer, sondern, weil da jemand sein neues Rennboot ausprobieren will. Einen ganzen Fluss hat man vielleicht auch nicht jeden Tag so einfach zu seiner freien Verfügung. Nicht weit von der Brücke entfernt entdecke ich auf einmal ein aus dem Nichts getauchtes Boot, das sich trotz der Sperre zwischen Polizeibooten hindurchgeschummelt hat. Sofort ertönt ein ohrenbetäubendes Signal, mehrere Polizeiboote umkreisen es, diskutieren und lassen das Boot nicht zurückfa hren oder leiten es hinaus, sondern nehmen die Menschen, die sich auf dem Boot befinden, gnadenlos fest. Wir sehen, wie sie mit auf den Rücken gebundenen Armen von einem Boot ins andere steigen müssen, und man fragt sich, was sie sich dabei gedacht haben, ob sie leicht dümmlich wären oder es vielleicht doch einfach nur ein Zufall war. „Zurück!“ schreien sie. „Weiter zurück.“ erhöhung, etwa siebzig Zentimeter hoch. Wir weichen immernoch zurück, durch die Masse der Menschen geht alles nur langsam und taumelnd. Man hat auch keinerlei Möglichkeit, sich zu widersetzen oder eine eigene Richtung zu bestimmen. (Zwischen (links) dem Geländer der Brücke und (rechts) den Menschen erkennt man die in ihrem Abstand zueinander stehenden Polizisten in ihrer steifen Haltung.) Für jeden Meter Menschenhaufen ist ein Polizist zuständig, der die Aufsicht hat, dass alles Ruhe und Ordnung bewahrt. Immernoch überrascht mich mal wieder die Genügsamkeit der Menschen, die zwar stöhnen und sich leise beschweren, die aber ihre Fassung trotz ihrer leichten Trunkenheit nicht verlieren. Wendet sich jemand an einen der Polizisten, dann wird höflich erst einmal um Entschuldigung gebeten und gefragt, ob er bitte sagen könne, wann es denn nun endlich losgeht. Die Milizantwort lautet auf jede Frage im gleichen Standartsatz. „Ich kann es Ihnen nicht sagen!“ Dieser Satz staubt trocken aus zusammengekniffenen Lippen. Hinter ihm schreiten seine Vorgesetzten vorüber. Meine Knie werden unsanft gegen den Stein gestoßen, ich drücke mit dem Hintern die weiche Menschenmasse wieder zurück, kenne da keine Skrupel. Ich bin völlig fassungslos und fühle die Woge an Bäuchen in meinem Rücken. Eine unerträgliche Hitze breitet sich durch die Massen aus. Jetzt, so dermaßen zusammengefercht, während vor uns zwei Meter Platz bis zum Geländer ist, stehen wir eng aneinander und rauben uns fast gegenseitig den Atem. m gehen wir nicht einfach?“ nnt und nichts geschieht. Die Entlastung der Beine tut gut. neut irgendwie stehengeblieben ist, nichts weiter passiert.
(Hier erkennt man das Schiff River Palast und links eines der Securityboote, wobei die Sicherheitsleute gerade jemanden hinüberschleusen.)
Und ich denke mir: Warten wir alle etwa auf ihn? Wartet eine ganze Stadt tatsächlich darauf, dass die Herrschaften dort unten gespeist haben und satt genug sind, um dem Spektakel in aller Ruhe ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen? Gerade tritt der Polizist vor mir von einem Bein auf das andere, gibt damit irgendwie ein winziges Detail seiner selbst preis. Vielleicht hat auch er nicht mit dieser langen Nacht, mit dieser so starken Verzögerung der Show gerechnet.
Ich werfe einen genervten Blick auf die Straße vor der Eremitage. Vom Vorplatz des Winterpalastes sieht man Scharen an Schülern und Studenten laufen. Zehntausende an Köpfen mache ich aus, die wie eine gewaltige Masse aus den Nebenstraßen, Plätzen und Parkanlagen quellen und sich an der unteren Brüstung zur Newa hin sammeln. Dort stehen nun auch sie und warten auf das Segelschiff, während sie eigentlich feiern könnten. Im Hintergrund findet immernoch ein Konzert statt, von dem leise Töne zu uns herüber dringen, doch zu leise, um uns alle tatsächlich zu unterhalten. Die Musik stammt von dem Popstar Dima Bilan, dem Gewinner des Eurovision Song Contests 2008. Auch gibt es dazu einen Auftritt des Cirque Du Soleil. All das verpassen wir, hätten es auch verpasst, wenn wir nicht auf der Brücke stehen würden. Denn der Zutritt zum Vorplatz ist, wie schon berichtet, für normal Sterbliche gesperrt.
Meine Mundwinkel sind einem beständigen Sog nach unten unterzogen, und trotzdem bin ich froh, dass ich hier, inmitten des einfachen Volkes stehe und all das leibhaftig miterlebe, nicht irgendwo auf einer Yacht die Daumen drehe, wo mich der Funken der Wirklichkeit nicht erreicht. Hier spürt man die Anstrengung, das Sein des russischen Volkes. Kein Film, kein anderer Ort könnte mir diese so lebendige Empfindung vermitteln. Der Mann redet nun vor sich hin, dass er schon in Frankreich war, in Italien, in Spanien, aber noch nie in Deutschland. Dann stampft er auf, packt seine Frau am Arm und zerrt sie mit sich, ohne tatsächlich voranzukommen. Die Masse ist wie eine Mauer. Nicht weit von ihrer vorherigen Position müssen sie aufgeben und stehenbleiben. Gerade in Russland, in dieser riesigen Stadt mit ihrer absurd hohen Präsenz an Miliz, dient keiner dieser Uniformierten der Menschheit, sondern lediglich dem Staat. Sie halten die Menge in Schach, die noch nicht einmal etwas im Schilde führt. Sie stehen in ihrer aufgeplusterten, übersauberen Uniform und behandeln die Menschen wie den letzten Dreck. Ich möchte ihm, wie er sich da wieder aufgebaut und in seine Reglosigkeit verfallen ist, am liebsten direkt gegen das Schienenbein treten. Auf der Brücke geht nun auch noch das Licht aus. Ich überlege, ob die Fahrt des Segelschiffs vielleicht ins Wasser fällt, doch keiner der Menschen reagiert in diesem Sinne, auch die Presse steht und wartet, der Kameramann auf seinem Kran ist noch sichtbar. Jemand sagt, dass sie hoffentlich Aufnahmen von diesen absurden Vorgängen machen würden, doch in mir macht sich der Verdacht breit, dass gerade die Presse nur das aufnimmt, was sie aufnehmen soll, und es wird sich hinterher genau so bestätigen. Am nächsten Tag erscheint in den Medien nichts von Verspätung, nichts davon, dass eine ganze Stadt auf ein mit fünfzehn Mann besetztes Schiff gewartet hat, es wird nur berichtet, wie schön alles war, wie wundervoll das Segelschiff mit seinen rot bestückten Masten aussah, wie herrlich das Feuerwerk sich am Himmel entfaltete. Es ist fast halb drei Uhr morgens, das Polizeiboot fährt zum dritten Mal heran, bekommt wohl einen Wink und begibt sich hinter die nächste Brücke, wo das Segelschiff wartet. Zwei grüne Leuchtkugel werden noch gen Himmel geschossen, mittlerweile ist es dunkel geworden, die Peter und Paul-Festung erstrahlt in verschieden Farben, die Brücke öffnet sich. (Rotes Feuerwerk, das sich in allen Formen und Farben abwechselte.) (Das Segelschiff mit den purpurnen Segeln, das die Sommerwende ankündigt und feste Tradition in St. Petersburg ist.) (Eremitage in ihrer nächtlichen Beleuchtung. Linker Hand sieht man im Dunklen das Schiff der Politiker und etwas vom Feuerwerk.)
12.
Die Müdigkeit überwältigt mich, die Helligkeit schlägt mir auf das Gemüt, ich friere, obwohl es nicht kalt ist. Irgendetwas frisst sich durch mein Inneres. Meine Beine spüre ich nicht mehr. Ich schwanke voran, immer mit der Menschenmenge, die sich wieder etwas lichtet, überquere Straßen, Plätze, Zebrastreifen mit blinkenden Ampeln, laufe mit dem Strom. Die Richtung muss stimmen, denn je weiter ich mich voranschleppe, desto mehr gleichen die Körperhaltungen meiner eigenen Verfassung. Wir sind hier also auf dem Weg der Verdammten, der Schlapp-Macher, der Heimkehrer. Hinter uns wird weiter gefeiert und gegrölt, gesungen und getanzt. Selbst mit dreiunddreißig Jahren fühle ich mich auf einmal uralt, zu alt, um so eine Nacht zu überstehen. Vor der noch geschlossenen Metro dann ein ähnliches Schauspiel. Mit der Idee im Kopf, dort irgendwo zu warten, treffe ich auf die nächste Absperrung. Man muss sich bewusst machen, dass es der einzige Weg zur Metro ist, es gibt keine Querstraße oder einen anderen Weg dorthin. Die Leute stehen und diskutieren mit der Miliz, die ihre Standartantwort verkündet: „Wir haben keine Ahnung! Gehen Sie weiter!“ Weiter ist gut, denke ich. Es gibt kein Weiter. Es gibt nur Stillstand oder Rückkehr. Auf der gesperrten Straße laufen einige Schüler und heben ihre Flaschen. Für diese sporadischen Feierfreunde bleibt die Straße für den Rest der Stadt, Familien, Kinder, Nichtschüler, weiterhin gesperrt. Sie haben am Vortag alle eine Karte gekauft, die es ihnen ermöglicht, das abgesperrte Gebiet zu betreten und für sich zu nutzen, bis die letzten der Feier- und Feuerfreudigen müde werden. Solange wird nichts geöffnet. Und sollte es auch nur ein einziger, torkelnder Mensch, der letzte fleischliche Rest einer Nacht sein, der nicht aufgeben will. Ich bahne mir einen Weg durch die nun an dieser Stelle neu gestaute Menschenmenge, weiche in eine Nebenstraße aus, versuche mir die Augen mit den Fingern offen zu halten, und sehe erneut ein Taxi, das hinter der letzten Häuserecke einbiegt und auf mich zukommt. Ich renne mit aller Kraft auf das Autofenster zu, wie auf ein Licht am Ende des Tunnels, beuge mich hinein und frage mit ersterbender Stimme, ob der Fahrer in die Budapeschskaja fährt und was es kosten würde. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber auf einmal erwachte ein Funken Menschlichkeit in ihm. Im Gegensatz zu den anderen, die die Gunst der Stunde erbarmungslos ausnutzten, ruft er nach einigem Überlegen „1000 Rubel!“. Ich glaube, so schnell bin ich noch nie in ein Auto gestiegen. In den Sitz zurückgelehnt spüre ich dann die ganze Müdigkeit mit voller Wucht über meinen Körper einbrechen, bis sich ein Rauschen in meinem Kopf festsetzt. Alles verlischt dahinter. Die Häuser und Lampen, Türen und Menschen schwimmen wie Irrlichter an mir vorüber. Ich zähle die Minuten, die das Bett näher rückt. Die Vögel beginnen überlaut zu zwitschern. Ich starre vor mich hin, ohne etwas zu sehen, erkenne nur den Hinterkopf des Taxifahrers, dem ich tiefe Dankbarkeit entgegenbringe. Er fährt mich sicher heimwärts, winkt zum Abschied, während ich die letzten Stufen im Treppenhaus hinaufächze, dabei abwechselnd ein Bein packend, um es von Stufe zu Stufe hochzuheben. Verzögert öffnet sich vor mir die stille Wohnung, das Zimmer, in dem ich schlafe, die Weichheit der Kissen. Weiße Nacht, du mit deinen roten Segeln und dem flammenden Himmel, den vielen Gesichtern und nicht befahrenen, glasknirschenden Straßen. Dich werde ich wohl, ob ich will oder nicht, für immer fest verankert in meinem Gedächtnis behalten.
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Teil 6
13. Ich komme gerade von der Blutskirche. An den Häuserfronten entlang, mitten auf der Straße, sind Gemälde aufgehängt, die ich erstaunt nacheinander betrachte. Ein guter Platz, um Bilder zu hängen, mitten im Getümmel. Später finde ich heraus, dass es sich um Kopien der Bilder handelt, die im russischen Museum hängen, vor dem der stehende Puschkin in erhabener Pose seinen Arm ausstreckt und damit etlichen Tauben Platz bietet. Beim Träumen von der hohen Gabe (Sergej Jessenin – „Mein Puschkin“, übersetzt von E. Boerner)
Von der anderen Straßenseite hörte ich jeden Tag eine melancholische Stimme volkstümlich singen. Bald darauf erblicke ich ein kleines Mädchen an einem Stand mit Cds sitzen, leicht nach vorne gebeugt und ohne große Reaktion. Sie hockt bescheiden zwischen all diesen Tonträgern, hält die Hände gefaltet. Nur wenn jemand an sie herantritt, dann beginnt sie zu verhandeln, verlangt so und so viel Rubel und schnippt mit den Fingern. Die Stimme des Sängers, der zu hören ist, klingt wehmütig und entbehrt nicht der Tragik und damit der Schönheit, drückt sich in solchen Liedern aus, die die Russen lieben, die sie in ihren Abendstunden singen, durch deren Melodie sie sich nach besseren Zeiten sehnen. Ich kann mir vorstellen, dass das Mädchen die Tochter des Sängers ist, der sie jeden Tag losschickt, um seine Aufnahmen unter die Leute zu bringen. Als ich jetzt laufe, sehe ich zwischen den Cd-Hüllen zum ersten Mal jemand anderen sitzen, und als ich näher trete, stimmt das Gesicht des Mannes mit dem auf dem Cover der Cd überein. Er ist leicht angetrunken und kippt vornüber, seine Frisur erinnert an die eines Pagen vergangener Zeiten, der jedoch nicht nur bedient, sondern soeben aus den Gemächern des Übersatten zurückkehrt. Kreuz und quer liegen die Haare, durch die glühend rot die Kopfhaut funkelt. Auch seine Nase wirkt, als wäre sie wie Popcorn aufgepufft. Das Mädchen ist nicht zu sehen, aus dem Cd-Player tönt seine bleierne Stimme, durch die er sich leicht hin und her im Takt wiegt. Ein eigenartiges Leben, denke ich mir. Vielleicht schwierig, doch nicht schwieriger als so viele andere Leben. Verrauchte Kneipen, Straßengesang. Das kleine Mädchen ist darin fester Bestandteil und mit ihren sechs Jahren schnell erwachsen geworden.
Im russischen Museum hängen Bilder, die so riesig sind, dass die abgebildeten Figuren fast dreifach so hoch sind, wie man selbst. Eines der Bilder ist von kleineren Bildern umringt, welche die Studien für das Bild darstellen. Jene Studien jedoch könnten durchaus für sich stehen.
Überhaupt bin ich von den russischen Realisten stark beeindruckt. Eine Kunst, dass manchmal ein Bild wie eine übergroße Fotografie wirkt, z. B. eine Schneelandschaft von Schischkin:
(Quelle: kunst-für-alle)
... oder eine dieser allmächtigen Wellen von Aiwasowskij. Dessen Wasser ist so klar, dass man glaubt, meterweit auf Grund zu blicken. Opal- und schimmernde Blautöne, manchmal gläsern oder verschwommen, mit der so lebendig wirkenden Gischt des Meeres. (Eines der riesigen Bilder von Aiwasowskij, „Schiffbruch“)
Ich habe noch nirgendwo so ein Wasser gesehen.
Man begegnet dort der Skulptur von Gogol und stößt mehrere Räume weiter auf ein Portrait von Tolstoi als barfüßigen Wanderprediger, gemalt von Repin, der durch seine Wolgatreidler bekannt wurde, oder auch auf die Ikonen von Andrej Rubljow, den Tarkowskij im Film verewigt hat und der in Russland bis heute sehr berühmt ist. Repin und Aiwasowskij haben auch ein gemeinsames Bild gemalt. „Puschkins Abschied vom Meer“. (Repin: Portrait von Tolstoi)
Tolstoi erzählte Alexander Goldenweiser zu seinem Portrait: „So weit, dass ich barfuss herumging, kam es natürlich nicht. Repin aber hat mich tatsächlich im décolleté dargestellt: ich bin barfuss, im Hemd. Ich bin noch froh, dass er mir wenigstens die Unaussprechlichen nicht ausgezogen hat! Und dabei hat er mich nicht einmal gefragt, ob mir das lieb sein werde! Übrigens bin ich es ja schon gewohnt, dass man mit mir wie mit einem Toten umgeht.“ (… zitiert aus Alexander Goldenweisers „Entlasse mich aus deinem Leben, Tolstois letztes Jahr“)
Tolstoi wurde häufiger porträtiert. Besonders ausdrucksstark finde ich das Bild von Kramskoj, das zu der Zeit entstand, als er „Krieg und Frieden“ schrieb.
Weiterhin gibt es eine „moderne Ebene“, wo man u. a. auf Malewitsch trifft, oder auf Valentin Serow, der Ida Rubenstein auf seine ganz eigene Weise porträtiert hat. Fast zufällig stoße ich auf den Spaziergang von Chagall. Bei all den Kunsteindrücken, die sich mir tief eingeprägt haben, ist eine erstaunliche Gier geweckt, mich in der eigenen Malerei ganz neu zu verlieren. Der erste Entwurf wird wohl eine Metrofahrt darstellen, all diese Menschen ins Bild setzen, die mich durch ihre Müdigkeit, Erschöpfung und Traurigkeit beeindruckt und bewegt haben. Die Picassos, die russischen Realisten, von denen ich so viele nicht einmal kannte, die Riberas und Murillos, all diese Geniepinselstriche habe ich mir einverleibt und sie wiederum haben in mir Inspiration geweckt.
Eine der Ausstellungen im russischen Museum war die von Pyotr Konchalovsky. Die fast 120 Bilder sind von ausdrucksstarker Farbe und manchmal dicken Pinselstrichen, deren Struktur dem Abgebildeten eine regelrechte Bewegung initiiert. Die Bilder entstanden 1912 und sind doch von ausdrucksstarker Modernität. Immernoch auf dem Weg zurück von der Blutskirche komme ich nun an mehreren Bistros und Cafés vorbei. Hier herrscht Tourismus, die Preise sind hoch. Man sitzt auf Holzbänken und hört allerlei englische und deutschsprachige Laute. Im Inneren eines dieser Cafés, das sich, betritt man es, als regelrechtes Kellergewölbe herausstellt, feiert zu Mittag eine ganze deutsche Truppe. Ihr lautes Gegröle, das Anstoßen mit russisch gelobtem Bier bringt mich zum Lachen. Einer der Deutschen beschwert sich einige Meter weiter gerade bei einer der Kellnerinnen, dass die Speisekarten nur in russischer und englischer Sprache gedruckt seien. „Er hätte es doch verdient… Die Deutschen, sie hätten doch verdient…“ Ich ging schnell weiter. Die Kleinere klammert sich an die Andere im roten Kleid. Sie kichern. Man sieht sofort, was sie sind. Ich überlege, was sie wohl gerade erlebt haben müssen und was, verhältnismäßig gesehen, ein Mann mit Geld doch für ein Glück hat, dass er auf so schöne Frauen steigen darf. Vielleicht hat sie irgendein reicher Sack für eine Nacht gebucht. Die Mittagszeit lässt darauf schließen, dass es sogar eine verdammt lange Nacht war. In meinem Kopf rattern filmische Bildsequenzen, was sein könnte oder auch nicht. Sie sind beide sehr attraktiv, wären ihre Gesichter nicht so verwischt, stände in ihnen nicht so deutlich das zuvor Erlebte geschrieben, der Einfluss von Drogen, Alkohol und Rausch, die leichte Erschöpfung des Danach, die Unausgeschlafenheit, um nun gemeinsam irgendwie den Heimweg anzutreten. Die Röcke, durch die runde und feste Backen schwingen, sind leicht fleckig, ich wende den Blick verlegen ab und richte ihn auf die Vorüberkommenden. Diese versuchen den stark schwankenden Bewegungen auszuweichen. Einige lächeln und flüstern sich etwas zu, andere blicken empört und wenden mehrmals den Kopf. Die Frauen sind in dieser Gegend vielleicht doch auffällig genug, um selbst die Einheimischen zu irritieren, wo sie sonst kaum den Kopf heben, um einander zu betrachten. Vielleicht ist es die ungünstige Uhrzeit, vielleicht findet man solche Frauen eher an anderen Plätzen. Ich weiß es nicht, aber beide wissen sich wohl zu helfen. Wer sie auslacht, denen begegnen sie mit lallendem Spott, wer schimpft, wird in einer ruckartigen Kopfbewegung abgetan. Sie haben im Moment einander, und werden ihren Weg schon gehen. Neben mir fährt ein riesiges Auto vor. Daraus hervor steigen zwei reiche Damen, geliftet und mit Juwelen geschmückt, und mischen sich unter die Leute. Dieser luxuriöse Wagen zwischen den anderen Wracks sticht hervor. Ich wundere mich, dass sie so einfach wagen, ihren überteuerten Schlitten dazwischen abzustellen.
So viele Menschen und sicherlich etliche Geschichten. Gerne würde ich mehr über die alten Blumenfrauen erfahren, die sich an den Parkeingängen und Metrohaltestellen ein paar Kröten verdienen. Die Blumen sind meist verwelkt oder eben mehrere Meter weiter im Park selbst zu finden. Doch die Leute kaufen. Der Mutter, Tochter, Großmutter, Tante, Geliebten einen Strauß mitzubringen, ist eine nette Geste und stark verbreitet. Manchmal hört man sie laut miteinander streiten. Es bleibt Kampf und Überleben. Schon als Kind sah ich etliche dieser Frauen. Sie verkaufen Blumen, Selbstgebackenes, kleine Hundewelpen.
Bedingungslos vorvererbt wurde mir eine zehnbändige Ausgabe von Dostojewskij in russischer Sprache. Ich werde vielleicht erst einmal mit Tschechow beginnen, da dieser einfacher schrieb. Die Buchstaben zu entziffern, die Worte im Kopf zu bilden, bis man sie deuten kann, das Ganze noch einmal für sich zu lesen, ist nicht so schwierig, wie ich es mir vorgestellt habe. Die Bücher in diesem großen Regal meiner Großmutter tragen ihre eigene Geschichte. Durch das emsige Sammeln von Buchscheinen, die dann abgegeben nach fünf Jahren einen Band Tschechow ermöglichten, haben sich meine Großeltern ihre Bibliothek über all die Jahre langsam zusammengesucht. Für Bücher musste man Beziehungen haben. Das Dom Kniga, das heute über Etagen reich gefüllt ist, mit Moderne und Klassik auf neuem und altem Papier, führte früher in leichter Übertreibung nur Marx und Lenin Werke und vielleicht einen Band von Puschkin. Es war nicht einfach, sich Literatur zu verschaffen. Ich habe mich immer gefragt, warum sich mir diese Sprache so tief eingeprägt hat, warum ich die Menschen nach all den Jahren immernoch verstehe, selbst reden kann. Meine Mutter hat selten mit mir Russisch gesprochen, und obwohl ich früh Russischunterricht hatte, kann eine Schule das Gedächtnis nicht so intensiv prägen. Die Russen erwarten übrigens ganz selbstverständlich, dass man ihre Sprache beherrscht. Sie setzen es regelrecht voraus, um dich zu akzeptieren. Wenn jemand sich nicht in ihren Worten verständigen kann, findet er nicht völlig in ihren Kreis hinein. Er wird gerne eingeladen, genauso gerne angesprochen und auch ebenso gerne belächelt. Wenn man sie dagegen fragt, welche anderen Sprachen sie beherrschen, wird, genauso selbstverständlich, das Fehlen jeglicher Sprachkenntnisse mit einem Schulterzucken abgetan. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Aufklärung über meine eigene Tiefverwurzelung in jener Sprache verschaffte mir schließlich meine Großmutter, weil ich, ohne es mehr zu wissen, wohl eine Zeit lang bei ihr verbracht habe. Zunächst, so erzählte sie mir, traute ich mich nicht, mich auszudrücken, wollte nicht mit anderen Kindern spielen. Ich fühlte mich alleine gelassen, meine Eltern waren gerade zu Besuch in Moskau. Ich trottete lustlos zum Spielplatz, wobei mein Großvater schreckliche Ängste ausstand, wie er es immer tat. Er hatte bei seinen eigenen Kindern oder wenn andere Kinder zu Besuch waren, immer einen längeren Hals als sonst, weil er ständig auf dem Balkon stand und nach ihnen Ausschau hielt. „Hoffentlich passiert nichts. Hoffentlich passiert nichts!“ pflegte er dann immer zu sagen. „Wie kannst du sie nur so einfach gehen lassen!“ Meine Großmutter winkte dann ab. „Wir haben sie doch im Auge. Mach dir keine Gedanken!“ Meinen Großvater vermisse ich sehr. Seine Art, beim Essen die Menschen regelrecht zu nötigen, sich vollzustopfen, während er eine Scheibe Brot in kleine Stückchen zerteilte und mit seinem schlechten Gebiss ganz langsam kaute. Wie er im Sessel saß und eine nach der anderen rauchte, mich auf seinen Schoß hob und mir Geschichten erzählte. Wie er, selbst als er von seinem Lungenkrebs erfuhr, weiter rauchte, nicht in ein Krankenhaus wollte, sondern erklärte: „Wenn ich schon sterbe, dann dort, wo ich zu Hause bin, umgeben von den Menschen, die ich liebe!“ In diesem Sessel, von dem ich nun zwei Erinnerungen besitze, der heute nicht mehr für das Sitzen geeignet ist, ist er auch gestorben. Ich habe einiges von ihm geerbt, Essen, das wir beide mögen und sonst keiner in meiner Familie, Eigenschaften, die ich auch von ihm übernommen habe. Meine Großmutter ist so glücklich, dass ich so viel lese, wessen sie beide immer gefrönt haben, sie hat auch andere Enkel, deren Leben von starken Höhen und Tiefen geprägt ist, dass darin kein Platz für die Literatur bleibt. Als sie eine Stunde später wieder nach mir sah, kam ich dann wohl mit einem Jungen an der Hand zurück und erklärte ihm auf Russisch die Welt. Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus mir hervor, und von da an ging ich jeden Tag zum Spielplatz. Darüber lacht sie heute noch. Der kleine Junge wohnte im gleichen Haus, auf einer höheren Etage. Er stand dann immer vor der Tür und fragte, ob ich spielen käme, auch als ich schon längst wieder abgereist war. An solche Situationen erinnere ich mich nicht, doch als Kind lernt man am besten. All das, was mir heute so leicht über die Lippen geht, wurde in diesem Alter vertieft. Auch erzählte sie mir, dass ich ein russisches Kinderlied besonders mochte und es immer und immer wieder auf Schallplatte abspielte. Das wurde dann schnell zur allgemeinen Belastung, dass sie sich verzweifelt die Ohren zuhielt, zunächst darauf wartete, dass ich endlich genug bekommen würde und mich danach mehrmals bat, den Plattenspieler auszuschalten, was ich nicht tat. Die Lösung brachte mein Onkel. Er zwinkerte mir zu, ging in sein Zimmer, holte ein Paar Kopfhörer und setzte sie mir auf. So war für alle eine zufriedenstellende Lösung gefunden. Ich saß noch ganze Ewigkeiten und nickte im Takt der Musik, die Zeit der Erwachsenen wäre wohl sehr lang geworden.
Woran ich mich erinnere, sind die winzigen Blinies, die sie mir zum Frühstück machte, in genau derselben Küche, die mir heute so klein erscheint. Auch an gezuckerte Nudeln in Milch kann ich mich entsinnen, die ich ausspuckte und mich weigerte, aufzuessen. Ich kann mich an den Spielplatz erinnern, der vor dem Haus liegt, der jetzt durch eine bunte Rutsche bereichert ist. Oder an die Spaziergänge, an der Schule vorbei, die meine Mutter besuchte. All das findet man irgendwie wieder, wenn auch stark zusammengerückt, stark verkleinert. Die endlosen Gänge der Treppenhäuser mit den vielen gepolsterten Türen, der kaputte Fahrstuhl, die Balkone und Magazine. Die löchrigen Straßen und Trolleybusse, deren Kontaktstellen zischend aufblitzen. Die dicht besiedelten Plätze, prächtigen Anlagen und Häuser, Zarenspielereien. Das warm umfangende Sein der Menschen in ihren Alltagssorgen und flinken Schritten über Schlammwege und Widrigkeiten hinweg. Getrocknete Fische, darunter auch kleine mit Augen, die zum Bier geknabbert werden, bunte Märkte, übersüße Klumpen Halvar, Konfekt, Samoware. Sehnige Hände, die einem anderen Menschen über den Kopf streicheln, denen man ansieht, dass sie ein Leben lang harte Arbeit gewöhnt sind. Die zupacken, wenn jemand auf der Straße zusammenbricht oder zusehen, weil sie Uniform tragen. Junge Männer, die beim Gehen wie selbstverständlich in alle Ecken rotzen. Wodka, ausgeschenkt in winzigen Gläschen. Das Verniedlichen aller Namen. Gitarren, die im Zimmer an der Wand hängen. Kleine Mädchen mit übergroßen Schleifen im Haar. So manches müdes, zerknittertes Gesicht. Es ist eine Stimmung, die sich einem tief vermittelt, aus einem ersten Schreck über den Verfall zu einer liebgewonnenen neuen Welt geraten ist, deren viele Gerüche, Menschen, Vorfälle man stark vermisst. All das hüllt einen ein, ist nicht sofort verinnerlicht, wenn man schon wieder durch die ewigen Passkontrollen muss, bei denen man ernst und unmäßig lange angesehen und mit dem Lichtbild im Pass verglichen wird. Auch im Flugzeug nicht, wenn durch die Wolken hindurch erneut ein klarer, blauer Himmel auf einen wartet, während die Landschaft sich verkleinert, die Häuser und Straßen zum Modell werden und unter ihrer eigenen Nebelschicht zurückbleiben. Es entfaltet sich erst, wenn all das weiter zurückliegt, die Menschen unerreichbar geworden sind, die Stadt aus Fotografien noch einmal geistig vor dem inneren Auge erbaut wird, wenn all das Erlebte längst zu einer Geschichte geworden ist, die sich vielleicht lohnt, erzählt zu werden.
(Ende)
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