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Blickweiten


Blickweiten - Weitblicke

Reise in Prosa
Gedanken von unterwegs 

 

 

Eindrücke aus St. Petersburg

von

Annelie Jagenholz



Mit der Besichtigung einer Stadt
glaubt man, sie zu sehen.
Alles, was ich jedoch sah,
war mein eigener Eindruck von dieser Stadt.
Und so bleibt sie in meinem Herzen.

1.

 

(Blick von der Peter und Paul Festung über die Newa auf die Seite, wo die Eremitage rechter Hand zu erkennen ist.)

 

„Nicht wie eine europäische Stadt
Mit dem ersten Preis für Schönheit
Sondern wie's drückende Exil am Jenissei,
Wie eine Versetzung nach Tschaita,
Zum Ischim, ins trock'ne Irgis,
Ins berühmte Atbasar,'
Zum Vorposten Swobodn
Zum Leichengestank faulender Koje
So erschien mir diese Stadt
In jener Mitternacht, hellblau -
Diese Stadt, gefeiert vom ersten Dichter,
Von uns Sündern und von dir.“


(Gedicht von Anna Achmatowa für Ossip Mandelstam über Leningrad)


Sollte man die Stadt St. Petersburg in ein Wort fassen, so würde ich spontan sagen: mächtig. Gleich danach käme mir das Wort: überwältigend in den Sinn, aber vielleicht auch nur, weil mein Auge dermaßen gebläht, mein Hirn so viel Stoff angesammelt hat, dass es mir nun wie eine kleine Ohnmacht in der Rückkehr erscheint. All das rattert wie eine Filmsequenz durch meinen Geist, wuchtet ein Bild nach dem anderen zu einem Gedanken, dass all das nun zu ordnen eine glatte Herausforderung ist und gleichzeitig so leicht von der Hand geht. So will ich es gerne versuchen.

St. Petersburg ist eine Stadt, scheinbar gebaut für Riesen. Man fühlt sich kaum als Mensch, mehr als eine Ameise, die versucht, in dieser Überdimensionalität zu überleben. Beschreitet man die Straßen, kommt man kaum voran. Die Macht des Zaren, des Staates, des Häuserbaus. Geschäfte, Reisebüros, Banken sehen im Zentrum aus wie riesige Bahnhofshallen, Gebäude mit hohen Rundbögen, Säulen, gewaltigen Eingängen. Die Newa, breit und der Stadt als mächtiger Fluss in seiner Größe angepasst, fließt unter Brücken hindurch und trennt den Winterpalast, der sich über die ganze Seite in grün elegantem Anblick erstreckt, von der Kunstkammer, Peter-Pauls-Festung und einige Kilometer weiter auch von dem berüchtigten Kresty-Gefängnis, in dem u. a.  Solschenizyn oder der Sohn von Anna Achmatowa einsaßen:

 

Ich klag nicht für mich allein,
 Ich klag für alle, die da standen mit mir,
In grausiger Kälte, in der Sonnenglut des Juli,
Unter der blindgewordenen roten Mauer.

 (Achmatowa, Epilog I aus „Requiem“ – Übersetzt von Wolfgang Hässner)

 

… wo etliche Menschen gequält und gefoltert und durch stalinistische Anweisung in die Gulags verschickt wurden, gemahnt durch zwei Statuen als eine Sphinx mit doppeldeutigem Gesicht. Während die Seite der Sphinx zur Stadt hin gesund und satt aussieht, ein halbes menschliches Gesicht, ein gut genährter Tierkörper, so ist die Seite zum Fluss und zum Gefängnis hin als ein Totenkopf und Skelett dargestellt, als Sinnbild für die Scheinheiligkeit der Ereignisse.

 

In der Achse beider Statuen steht ein Denkmal von Anna Achmatowa, die in jener Haltung dargestellt ist, in der sie tagtäglich dort anzutreffen war und mit der sie auf das Gefängnis blickte, um ihrem Sohn in der Gefangenschaft vom Ufer aus beizustehen. Viele Tafeln zitieren Gedichte und Gedanken verschiedener Schriftsteller zu den Ereignissen. Sollte man einmal, sagt die Dichterin, in diesem Land ihr eines Tages ein Denkmal setzen wollen, dann nur unter einer Bedingung:

… nicht dort am Meer, in Zarskoje Selo, sondern hier, wo ich dreihundert Stunden gewartet hab und wo sich kein Riegel auftat.

(Epilog II in „Requiem“ – übersetzt durch W. Hässner)

 

Ein leichter Schauer der Kälte überfällt mich, als ich auf die roten Backsteine in der Ferne blicke und versuche, mir auszumalen, was sowohl die Menschen in den Schlangen, die einander abwechselten, wenn ihnen die Erschöpfung die Beine schwach werden ließ, als auch diejenigen im Inneren des Gefängnis empfunden haben müssen, die einerseits von Hoffnung genährt, andererseits bereits wussten, dass der Weg hinaus eine Illusion war, die verhört und gequält wurden und ohne geringstes Vergehen zu zehn Jahren verurteilt wurden. Selbst in den mit Stroh beworfenen Böden der Gefängniszellen und Baracken in der Peter-und-Pauls-Festung, in denen Dostojewski oder Bakunin einsaßen, überlief mich nicht derselbe Schauer wie beim Anblick dieser roten Backsteine samt der in ihnen eingebrannt grausamen Geschichte.

(Die Kirche, um die das Gefängnis in rotem Backstein gebaut wurde.

Im Moment sitzen dort nur noch Verbrecher in U-Haft.)

 

(Eine der zwei Sphinxen, mit dem zweigeteilten Gesicht von vorne.)

 

(Die Sphinx von der Skelettseite. Die mittige untere Tafel ist von Solschenizyn beschrieben, wo er sein Bedauern für die damaligen Umstände in Worte fasst.)

 

 

(Anna Achmatowa in ihrer gewohnten Pose als Denkmal gegenüber dem Kresty-Gefängnis)

„In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise »erkannte« mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich nie gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton):
»Und Sie können dies beschreiben?«
Und ich sagte:
»Ja.«
Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.

(Anna Achmatowa - Vorwort aus "Requiem" (Gedichte))



An ganz anderer Stelle ging es mir mit den Emotionen wohl ähnlich. Ich empfand Kälte, obwohl die Temperaturen für eine auf Sumpf gebaute Stadt wie St. Peterburg relativ mild waren. Dort traf ich auf einen unscheinbaren Balkon, auf den einst Lenin gestanden und zum Volk gesprochen hat. Alles wirkt brüchig und grau, kalt und irgendwie auch streng kommunistisch.

 (Haus mit dem berüchtigten Balkon. Unterhalb ist eine Tafel angebracht, die darauf hinweist.)

 

2.

Was mir gleichfalls sofort auffällt, wenn ich durch die Straßen St. Petersburgs schlendere, ist ihre Energie, die sich auf mich überträgt. Ich weiß nicht, womit ich diese erklären könnte, mein Geist aber ist neu belebt und klar, wie wenig Schlaf ich auch bekomme. Schon die alten Räume, die ich sofort wiedererkannte, die Möbel, die nun größer und brüchiger sind, der knarrende Fußboden, die leicht geöffneten Türen der Schränke, der Balkon voller Gerümpel, auf dem früher Kesha, die Katze, hauste, die mein Onkel immer durch den Flur jagte, um ihr beizubringen, nicht auf den Teppich zu pinkeln, die Gitarren an der Wand, die er als Jugendlicher oder später im Suff so gerne spielte, um danach mit Wyssozki die Welt anzubrüllen. Oder das hintere Zimmer, wo wir als Besucher nun auch zu dritt übernachten, wo ich deutlich die Konturen meines Großvaters entstehen sehe, wie er sich über Saschka beugt und mit ihm die Hausaufgaben durchgeht. In seinem Abschiedsbrief an meine Großmutter schrieb er vor allen Dingen von ihm, dessen Weg sich in nihilistische Ebenen verirrt hat, von seiner Liebe für ihn und der Hoffnung, die er hegt, dass Saschka sein Leben in den Griff bekommt. All das ist immer noch vorhanden, entsteht und fällt wieder in sich zusammen, wenn ich mich umblicke und wiedererkenne, obwohl bereits etliche Jahre dazwischen geflossen sind. Sobald ich die Wohnung meiner Großmutter durchwandere, sehe ich mich in Zeiten zurückversetzt, in denen ich als Kind hier spielte, der Kassette lauschte, die mein Großvater von mir aufnahm, auf der ich mit leicht schiefen Tönen ein Kinderlied auf Russisch sang. Ich erblicke den Sessel, seinen Sessel, in dem er gestorben ist, in dem er mir vom Leben erzählte. Ich sehe ihn hinter Gardinen verborgen wachsam auf den Spielplatz vor dem Haus blicken, auf dem ich mich herumtrieb, einen Platz, den er erst verließ, wenn ich wohlbehalten und erschöpft zurückkehrte.

Ob diese Energie, die mich in dieser Stadt überfällt und die nicht mehr aus dem Körper weicht, so dass ich ewig laufen, ewig blicken, ewig der Stadt huldigen könnte, dass eine Gedanke den nächsten verdrängt oder bereichert, ob all das nun aus den alten und sumpfigen Steinen emporsteigt, weil ich hier geboren bin, kann ich nicht sagen. Der Verdacht bleibt allerdings, lässt mich nicht mehr los. Ich fühle mich, als würde ich hier anders atmen, alle Straßen kennen, das Bild dieser Stadt schon immer in mir getragen haben. Und ich weiß, dass jedes kommende Buch, das von dieser Stadt berichten wird, mir ihre Tore erneut öffnen wird, dass ich sie nun wieder klar sehen werde, sobald jemand eine Straße, ein Haus, ein Denkmal oder einen Palast erwähnt.

Der Trend der Stadt scheint wohl im Moment das Limousinenfahren für Brautpaare zu sein. Etliche dieser Fahrzeuge entdeckt man inmitten des chaotischen Verkehrs. Überhaupt habe ich so viele Brautpaare gesehen, da sie natürlich all die Orte aufsuchen, die prächtig und bekannt sind. Gleichzeitig waren die Schauplätze so unterschiedlich, dass man sowohl im Katharinenpalast in Puschkin auf die Verliebten traf als auch Verrückte vorfand, die sich am eher hässlichen Gemäuer der Peter und Paul-Festung fotografieren ließen. Jeder eben ganz nach seinem Geschmack.

(Eine dieser ewig langen Limousinen, geblickt aus dem Eingang der Isaakkathedrale.)

 

Aus der Budapeschskaja, wo meine Großmutter lebt und wohnt, schlendere ich über die Straße zur nächsten Bushaltestelle. Die Stadt ist aufgrund ihrer Ausmaße tatsächlich kaum zu begehen, sondern eher von einem Schau-Ort zum anderen, von einer Pracht zur nächsten, ja, fast schon von einer Straßenseite zur anderen zu befahren. Dazu dienen Taxen, Busse, Trolleybusse und natürlich die Metro.

 

Die Busse sind zahlreich und manchmal reine Kleinbusse, in denen nicht mehr als sechs, sieben Leute sitzen. Die Busfahrer, wie überhaupt alle Fahrenden, sind beeindruckend in der Kunst des Fahrens geübt, dass die sechsspurige Straße rasant befahren wird, man so zügig wie möglich vorankommt, bis sich der Verkehr wieder staut. Hier muss die jeweilige Haltestelle auch gar nicht erst erreicht werden, sondern sobald sich der Verkehr staut, werden die Bustüren geöffnet und die Menschen springen heraus, um den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen, entweder, um ihr Ziel so zu erreichen, oder an einer nächsten Haltestelle wieder einen neuen Bus zu besteigen. Das hat mir sehr gefallen. Keine festgelegten Regeln. All das ist so spontan und verhindert das nervige Warten. Man kommt irgendwie immer voran.

 

Riesige Reklametafeln verkünden Werbung für Ketchup in übermächtiger Plastikflasche und Mc Donalds, was mich, lese ich die russischen Buchstaben, irgendwie amüsiert.
Überschreitet man einen Fußgängerweg, so zeigt die Ampel die Zeit an, die gewartet werden muss (rote Ziffern) als auch die, die man nun hat, um die großen Straßen zu überqueren (grüne Ziffern). Einerseits ist das natürlich ein hilfreiches Mittel, andererseits wirkt das wie ein bewusst wahrgenommenes Ablaufen der Zeit… Tick Tack Tick Tack, als ob da jemand mit der Stoppuhr neben einem steht und zur Eile drängt, dass man im Takt der sich verringernden Zahlen gehetzt über den Zebrastreifen flüchtet. Bei dem Verkehr, der wie ein Raubtier in den eigenen Abgasen wartet, während eine rote Ampel eher einer gut gemeinten Richtlinie entspricht, als der expliziten Aufforderung zum Stehenbleiben (kennt man ja auch aus anderen Ländern), ist die Methode vielleicht doch notwendig, wenn sie dem gelassenen Menschen auch einiges seiner Gelassenheit nimmt.

Vom Flughafen ging es mit einem Taxi zu der angegebenen Adresse. Bei den Taxifahrten werden die Preise vorher festgelegt. Natürlich sind die Stände am Flughafen stark überteuert. Dafür aber kommt man bequem voran, gerade wenn der Koffer fast schwerer wiegt als man selbst. Leicht kaputt, da der Flug bereits um sechs Uhr morgens ging, ich sowieso kaum geschlafen hatte (die Zeit wird dann in Russland zwei Stunden vorgestellt), blickte ich aus dem Fenster, ließ die leicht grau bewölkte Stadt als ersten Eindruck auf mich wirken.


Im Flugzeug (wie auch in Bussen und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln) staunte ich mal wieder über das Massenvertrauen der Leute, dass schon nichts geschehen wird, dass auch mich erfüllte. Wir werden fliegen, wir werden durch die Wolken steigen, auf die Stadt blicken und schließlich dann irgendwann, so weit entfernt von Deutschland, wieder sicher landen. Eine Bedingung, die man voraussetzt, während die Stewardess die Sicherheitsmaßnahmen erklärt.
Aus blauem Himmel tauchte man durch eine Wolke ins Nichts, der Kapitän erklärte, dass aus zwanzig Grad auf einmal 12 geworden sind, wir landeten in St. Petersburg, mussten zuvor noch jenes Dokument ausfüllen, dass man nicht verlieren durfte, damit man bei der Rückreise überhaupt wieder aus dem Land gelassen wurde, und setzten sicher auf. Die Phasen des Aufsteigens und des Landens sind die schönsten.
Die mafiösen Bedingungen, dass jeder, egal ob er privat wohnt oder irgendwo sonst bei Verwandten unterkommt, trotzdem für die Zeit seines Aufenthalts ein Hotelzimmer bezahlen muss, auch wenn er dieses nicht nutzt, sind zum Glück wieder abgeschafft, dafür hat man nun drei Tage Zeit, um sich, gegen eine gewisse Summe, registrieren zu lassen. Man geht zu einer Poststelle, besorgt sich die Dokumente, muss dann zur Bank, um das Geld zu bezahlen, dann zurück zur Post, um sich den Stempel zu holen. Kein Wunder also, dass man drei Tage Zeit hat, die man sich dann auch wirklich nehmen muss, nicht einfach so verstreichen lassen kann. (Die kleine Geschi
chte dazu später.)


3.

Immernoch im Taxi, vom Flughafen zur Wohnung meiner Großmutter, empfand ich tiefe Sympathie für den Taxifahrer, da aus seinem Radio wunderbarer Jazz melodisierte. Man lehnte sich zurück, das Auto war neu, nicht so klapprig wie später die unzähligen Busse, und blickte auf die vorüberziehenden Häuser.

 

Der Taxifahrer wird nicht der Einzige bleiben, der mit Jazz eine eigenartig musische Stimmung erschafft, so dass man sich dann doch auf dem Weg nach Puschkin mal eben erkundigt, ob derlei Musik vielleicht von der Zentrale vorgegeben war. Die Antwort lautete, dass alle anderen Sender ihm auf den Keks gingen.
So also traf man bei mehreren Fahrten auf Jazz-Liebhaber, die man sich direkt in die kleinen Cafés dachte, wie sie um den Samowar sitzen und auf verrauchte Bühnen blicken. Tatsächlich kann man in St. Petersburg mit einem Schiff über die Newa fahren, das gleichzeitig Bar ist und live Jazz-Musik spielt.
Gleich nach der an den Taxifahrer gerichteten Frage ging mir natürlich durch den Kopf, dass „Service“ hier doch eher ein Fremdwort war, dass eigentlich jeder machte, was er wollte, so gut und schlecht, wie es ihm möglich war.

 

Fahren allein wäre für mich hier schon eine Herausforderung, und ich bin froh, dass all die Taxifahrer ihre Aufgabe so hervorragend meisterten, dazu noch derartige Töne aus dem Radio plätscherten, die einen mit sich trugen und innerlich erfüllten.
Es gab dann später natürlich auch noch ganz andere Typen, solche, die nur quasselten, von Rasputin faselten, von dem Betrug Nostradamus, der nichts vorhersehen konnte, weil, so ein anderer Taxifahrer, Gott diese Seherfähigkeiten direkt vermitteln würde und die Gabe nicht einem Einzigen gab, der sie auch noch auf eine unsichere Zukunft anwandte. So müsse Gott auch ihm derlei Fähigkeiten eingeben, worauf er sowieso warten würde. Bis dahin fuhr er eben Taxi.

 Nostradamus aber sei eine Lüge. Ich sagte ihm, dass Nostradamus’ Sohn sich umbrachte, weil er nicht die gleichen seherischen Kräfte in sich spürte, wie sie sein Vater hatte, weil er, im Gegensatz zu seinem Vater, einige Ereignisse falsch voraussagte. Er winkte ab und kam auf Rasputin zurück, der mittellos  gestorben sei. Ich erwiderte, dass Rasputin ermordet wurde. Er winkte ab und erklärte, dass er hungrig und arm verreckt wäre, dass Gift und Folter ihm nichts anhaben konnten. Ich sagte, es gäbe sogar „Erinnerungen“ eines der Mörder, vom Fürsten Jussupoff, und dass es sogar Bilder seines Leichnams gab. Er sprach von Lügen. Auch erzählte er, als er hörte, dass Deutsche in seinem Wagen saßen, dass die Deutschen wenigstens die Hitlerzeiten bereuten, während die Russen die Schandtaten Stalins bis heute nicht bedauerten.
Dieses Pauschalisieren ging mir leicht auf den Wecker, überhaupt sein lautes Geschwätz und der musikalische Krach, der aus seinen Boxen schepperte, der all das untermalte und irgendwie seinem Charakter entsprach, was meine Ansicht über Taxifahrer in ihrer lässigen Jazz-Haltung dann auch schlagartig widerlegte. 
 

Wenigstens zeigte er mir, wo Rasputin wohnte, ein Haus mit rundem Vorbau, bestehend aus drei Etagen, wobei Rasputin in der dritten gelebt haben sollte, schmiss seine Fahrgäste dann aus dem Taxi, da es zum wiederholten Mal einen Stau gab, erklärte ungefähr, wohin wir gehen müssten und haute uns dann noch um 500 Rubel übers Ohr.

Was ihnen allen natürlich fast schon im Blut liegt, ist die Kenntnis der Straße. Sie wissen haargenau, wann ein nächstes Schlagloch, eine überhohe Schiene kommt, vor der man stark abbremsen muss. Die Straßen sind übersät mit Löchern und Stolperfallen. So sei ihm gegeben, dachte ich nur in diesem Augenblick, was die Kunst des Fahrens verlangt.

Die Häuser der Außenbezirke sind stark zerfallen. Die Russen nutzen die Balkone als Lagerplatz, da die meisten dieser alten Bauten keine Keller enthalten. Ähnlich ist es mit Fahrstühlen, die zwar vorhanden sind, aber grundsätzlich, egal, wohin man auch kommt, nicht funktionieren. Man fragt sich aber in erster Linie, wie diese brüchigen Gestelle, die sich da Balkon nennen, überhaupt so viel Gestautes aufnehmen oder betreten werden können, denn sie wirken, als ob ein Schritt genügt, um all das zusammenstürzen zu lassen. Die Häuser sehen aus, als würde Krieg herrschen oder man durch ein Besetzungsgebiet reisen. Man spürt regelrecht die Not dieser Leute, die dort leben. Trotzdem sind es riesengroße Häuser, viele Etagen, Fenster über Fenster. Ich erinnere mich an bestimmte Bezirke in der DDR, wo alte Kasernen die Plattenbauten ablösten. Diese wirken gegen solche Häuser fast luxuriös.

Die Behausungen wechseln durch Neubauten, ebenso riesig, ganz anders und überteuert, und auf den Balkonen hinter Glasfront erkennt man das gleiche Gerümpel, chaotisch übereinander gestapelt, so dass ein Haus nach dem anderen wie ein abstraktes Kunstwerk wirkt. Man sieht hier, dass die jahrelang erprobten Gewohnheiten auch in neu bezogener Wohnung nicht abgelegt werden.
Obwohl es warm ist, ist die Stadt Wolken verhangen, trägt einen nebligen Schleier, als würde sie ihre Wolken, ihr Wetter selbst produzieren.

 


4.
 

Aus dem Bus springe ich hinaus, er ist eine Weile mit offenen Türen gefahren, was einen guten Fahrtwind ins stickige Innere einlässt. Die Hand des Fahrers ruht auf einem Teppich, auf diesem liegt das in Scheinen bezahlte Geld, auf dem Boden aber klimpern die Kopeken und Einrubelstücke. Sie liegen überall. Die Russen werfen sie weg, weil sie fast wertlos sind.
Die nächste Haltestelle ist die Moskowskaja. Dort steigt man in die Metro. Zuvor trifft man noch auf das letzte und riesige Lenindenkmal vor dem Haus des Sowjets. Dort üben sich die Jugendlichen auf dem riesigen Platz unter jener mit Mütze in der Hand dargestellten Gestalt im Skateboard- und Radfahrern und an den Parkeingängen stehen die alten Frauen, die Blumen verkaufen, die sie wenige Meter weiter aus irgendeiner Hecke gerissen haben.

(Leninstatue vor dem Haus des Sowjets. Im Moment arbeiten dort die Sekretäre von Medwedew.)

 

Einige Steinstufen hinab, trifft man auf die Schalterhalle der Metro. Mit einem Märkchen geht man durch eine automatische Schranke, von denen einige anfangen zu kreischen, falls irgendetwas nicht hinhaut, und fährt dann eine enorm lange Rolltreppe hinab, die wirkt, als wäre sie Kilometer lang.

 

Man steht und steht und rollt hinab, ganze Ewigkeiten vergehen. Die Treppe nach unten stehen die Leute rechter Hand und links wird gelaufen. In der Mitte sind Lampen angebracht, dahinter rollen wiederum die Leute hinauf, die von der Bahn kommen. Ist man nach mehreren Minuten unten angelangt, so trifft man auf einen riesigen, in Marmor gekleideten Saal, an dem rechts und links braun gestrichene Eisentüren sind. Wenn diese aufgehen, so findet sich dahinter der Eingang in die Bahn selbst.

 

Dann heißt es auch schon: „Vorsicht. Die Türen schließen.“, die Stimme fordert alle Menschen auf, Behinderte, ältere Menschen und Mütter mit Kindern sitzen zu lassen, und die Bahn fährt schleunigst und mit dröhnendem Geräusch an. Sie bremst auch sehr aprubt, man wird ganz schön hin und her geschüttelt. Sieben Stationen sind es, bis man zum Newski Prospekt gelangt, vorbei auch am Technologischen Institut, wo meine Mutter und mein Vater früher studiert haben. Meine Mutter erzählte mir, dass man im Winter, wenn man morgens aus der Metro stieg, keine Knöpfe mehr am Mantel hatte, so voll waren die Wagons. Jetzt aber ist es verhältnismäßig leer, auch wenn man nicht sitzen kann, sich an den oberen Eisenstangen festhält.

 

Die Leute wirken auf mich irgendwie sehr erschöpft. Viele schlafen, egal, um welche Uhrzeit man fährt. Ihre Gesichter sind traurig, müde, ganz selten sieht man jemanden lächeln. Auch auf der Straße ändert sich das Bild nicht. Sie hetzen (wenn ein Volk rennen kann, dann diese St. Petersburger) und blicken grimmig vor sich hin.

Aber die Frauen sind wunderschön. Auf sehr hohen Absätzen stolzieren sie dahin, eine so schön und langbeinig wie die andere, und laufen gleichzeitig so schnell, wie ich mit meinen Turnschuhen kaum vorankomme. Ich staune über ihre Vielfalt an Außergewöhnlichkeit. Wunderschön zurechtgemacht, geschminkt und dabei doch gleichzeitig auch völlig verschieden.

 
Aus der Metro gestiegen, steht man erneut die etlichen Minuten auf der Rolltreppe, denn diese ist nicht nur an einer Station so lang, sondern an allen. Die Bahn selbst scheint ein regelrechter Stream zu sein, und an manchen wenigen Haltestellen kann man dann umsteigen, was ich allerdings nur am letzten Tag gemacht habe, als ich ins Dostojewski-Museum wollte und bis zur Wladimirskaja/Dostojewskaja-Haltestelle fuhr, noch kurz vor dem Rückflug, fast auf dem Sprung und mit dem unguten Gefühl, den Flug vielleicht zu verpassen, denn alleine die Fahrtzeit kostete schon einige Stunden.

Doch gerade dieses Haus, wo er gelebt und auch gestorben ist, wo er die „Brüder Karamasow“ geschrieben hat, wollte ich unbedingt noch sehen, bevor ich endgültig wieder fahre, ohne zu wissen, was mich dort erwarten würde, wollte vielleicht etwas von seiner Atmosphäre wiederfinden, sehen, wie er mit seiner Familie in den letzten Tagen seines Lebens in der Kusnetschnyj pereulok gelebt hat.

 

(Das Haus, in dem Dostojewskij zum Schluss lebte und starb. Unten ist der Eingang zum Museum.)

 
Die Wohnung liegt in der zweiten Etage (der erste Balkon, bei dem die Tür offen steht) und besteht aus einem langen Gang und vier Zimmern, die im Quadrat angeordnet sind. Hier lässt sich doch erkennen, dass es Dostojewskijs Familie zu dieser Zeit etwas besser ging. Natürlich sind die Räume nicht mehr original erhalten, während der Revolution- und Kriegszeiten haben sich hier Soldaten breitgemacht, und bald war das Innere auch völlig zerstört (wie es bedauerlicherweise so vielen Sehenswürdigkeiten erging). Die Räume sind also wieder neu und nach den bekannten Vorgaben errichtet, sowie durch verschiedene Gaben der Familie ausgestattet. Der Inhalt - Möbel, Manuskripte und besonders der Hut - sind also original.

Zunächst betritt man das Zimmer der Kinder, wo Sch
aukelpferd und Puppe auf einer Bank zu sehen sind, wo Anna Grigorjewna auch mit den Kindern geschlafen hat. Die Aufseherin (so möchte man diese bissigen Weibsbilder dann doch gerne nennen, die dort überall sitzen und die Besucher fixieren) erzählt später, etwas besänftigt, da ich mehrmals meine Karte und die Erlaubnis zum Fotografieren vorzeigen musste und mich darüber nach dem vierten Mal dann doch etwas empört habe, dass die erste Frage, die Dostojewskij stellte, sobald er das Haus betrat, war: „Was machen die Kinder?“
 Er liebte sie über alles, und in seinen Briefen kann man auch sehen, wie schwer ihn der Tod seines Kindes getroffen und lange belastet hat.
 

Weiter geht es in das Zimmer seiner Frau, in dem ein Sekretär steht, auf dem sie die Rechnungen verfasste und die Manuskripte ins Saubere schrieb. Sie verlegten und verkauften Dostojewskijs Werke selbst und konnten später dadurch endlich die Schulden begleichen, die durch Spielsucht, Kredite und anderes entstanden sind und aufgrund derer sie auch nach Deutschland flüchten mussten, wo es dann durch Dostojewskijs zahlreiche Geldverluste nicht wesentlich besser wurde. Auf dem Sekretär liegt ein Fragment aus den „Brüdern Karamasow“, geschrieben in ihrer Handschrift.

Dann wendet man sich nach links und betritt das Wohnzimmer, wo man auf Fotografien an der Wand und einen Tisch trifft, auf dem sein Tabak und seine leeren Zigarettenhüllen liegen. Auf der Tabakdose hat seine Tochter am Tag seines Todes mit Bleistift notiert: 28. Januar 1881. Papa ist heute gestorben. Während Dostojewskij gearbeitet hat, rauchte er fast 50 Zigaretten, obwohl er bereits lungenkrank war. Er ließ in diesen Dingen nicht mit sich reden.

 (Die Tabakdose mit der Schrift der Tochter.)

(Das Wohnzimmer mit dem Tisch, auf dem der Tabak und die Zigarettenhülsen liegen.)

 

Noch im Wohnzimmer stehend kann man einen Blick in sein Arbeitszimmer werfen, wo er geschrieben und auch geschlafen hat. Der Schreibtisch, die Couch und eine Ikone am Fenster lassen ahnen, wie er sich über seine Manuskripte beugte. Eine Uhr zeigt den Augenblick an, in dem er gestorben ist. Mittwoch, der 28. Januar um 20.36 Uhr. Die Zeiger wurden durch Markevich mit der Hand gestoppt. Das Arbeitszimmer darf man leider nicht betreten, es ist durch ein Seil abgesperrt. 

(Sein Schreib- und Arbeitstisch, auf dem einige Manuskripte liegen. Auf dem oberen Bild ist er selbst zu sehen. Im Schrank sind einige Bücher.)

 

Über seiner Schlafcouch erkennt man das Bild der Raphael’schen Madonna, das Dostojewskij beeindruckte und von dem er bedauerte, es nicht als Replikat in gleicher Größe erwerben zu können. Er erhielt die Madonna dann als Geschenk von Sofia A. Tolstoja und stand häufig vor dem Bild, um es zu bewundern. Diese Angaben findet man in den Memoiren seiner Frau Anna Grigorjewna.

(Seine Schlafcouch, auf die er sich dann in den Morgenstunden hinlegte, um niemanden zu stören.)

(Die Uhr, auf der der Zeitpunkt seines Todes vermerkt wurde. Oberhalb des Fensters befindet sich eine Ikone.)

 

Durch das Wohnzimmer kehrt man wieder in den Flur zurück, wo sein Hut unter einer Glasglocke zu sehen ist.

(Dostojewskijs Hut und der Flur, über den man wieder zum Ausgang gelangt. Aus dem Wohnzimmer heraus kommt man von links, während ganz rechts, am Hut vorbei, der Ausgang liegt.)

 

Neben der Wohnung gibt es dann noch eine Art Ahnengalerie und Lebenslauf, gestaltet hinter Glas in ganz dunklem Raum, wo man seine Originalmanuskripte (Dostojewskij hat eine schön geschwungene, saubere Handschrift und auch häufig Zeichnungen am Rand gemacht), seinen Werdegang, Bilder seines Aufenthalts in Baden Baden, Erstdrucke seiner Romane, das Bild des liegenden Christus von Holbein, dem Jüngeren, das ihn so sehr bewegt hat und das in „Der Idiot“ von ihm beschrieben wird, sowie seine Totenmaske bewundern kann. 

(Der Christus aus „Der Idiot“ von Hans Holbein, dem Jüngeren)

(Dostojewskijs Totenmaske)

 

Es gibt von Dostojewskij auch ein Holzhaus in Staraja Russa, wo er von 1875 bis 1878 und 1880 gelebt hat, das heute ebenfalls ein Museum ist. Sein Grab habe ich nicht besucht, da das Betreten des Friedhofs Geld kostete und der Preis mir zu hoch erschien, um einen Ort zu besuchen, der nach ihm errichtet wurde und eigentlich nichts mehr mit ihm zu tun hat, bin aber am Friedhof vorbeigelaufen und habe mir die dortige Kirche angesehen, in die man nicht ohne Kopftuch eintreten darf. Jemand lieh mir ein Tuch, so konnte ich die innere Pracht trotzdem bewundern.

In solchen Kirchen und Kathedralen uft man immer mit dem Blick nach oben. Die hohen und prachtvoll gestalteten Decken verführen zu Reisen in die Vergangenheit, Träumereien und zur Nackenstarre, die man dafür jedoch gerne in Kauf nimmt.

 

 

(Blick von der Isaakkathedrale auf die Eremitage)

  

 

 

  Teil 2

 (Die Isaakkathedrale)


5.


Jeder Tag ist an und ausgefüllt mit Sehenswürdigkeiten und Betrachtungen, mit Stadtgang und Stadtfahrt, mit weißen Nächten, Feuerwerken, Zarenreichtum und einer Gier, am liebsten alles auf einmal betrachten zu wollen. Doch die Stadt ist zu groß, birgt zu viele Besichtigungsorte, die weit von einander entfernt liegen.

 

Am besten fährt man zuerst zum Newski Prospekt, er liegt sehr zentral, von dort gelangt man ziemlich schnell an die ersehnten Orte. Schreitet man Richtung Eremitage und gelangt zur Newa, findet man dort etliche Museen wie die Kunstkammer, Peter und Paul-Festung, die Isaakkathedrale usw.
Das Denkmal von Peter dem Großen, das in der Nähe der Isaakkathedrale liegt, erinnert mich stark an das von Alexander dem Großen in Thessaloniki. Die Haltung von Pferd und Reiter sind fast identisch. Nur auf Stein schleicht sich bei Peter dem Großen eine gewaltige Schlange heran.

Mein Blick ist wie ein Magnet, nimmt auf und auf, fast ohne zu verarbeiten, und auch jetzt, wo ich wieder zurück bin und allmählich zur Ruhe komme, treiben diese Bilder immernoch genauso intensiv am inneren Auge vorbei, legen sich langsam als Erfahrung und Erlebnis und prägen sich als Erinnerung ein. Meine Waden sind wie aus Stein gemeißelt. Ich habe das Gefühl, noch nie in meinem Leben so viele Strecken so schnell gerannt zu sein. Die Zeit hat sich gedehnt, hat sich irgendwie den Auswüchsen dieser Stadt angepasst. Jetzt, wenn ich so sitze und zurückdenke, erscheint mir das alles so unwirklich, so weit entfernt und gleichzeitig auch immernoch so nah, so voller Leben und Sein.

Ein buddhistisch „leerer Kopf“ lässt sich in dieser Stadt zumindest nicht lange aufrechterhalten, zu viel wirkt und schlägt regelrecht auf einen ein. Apropos „Einschlagen“: die Präsenz der Miliz und der Schlägertruppe von Putin, die sich OMON nennt und zu denen gehört, die erst prügeln und dann fragen, wenn sie überhaupt fragen, ist stark und erschreckend und beherrscht die gesamte Stadt.

(Die Miliz, in dieser Form fast überall vertreten.)

 

Diese Herden an Uniformierten sind natürlich in erster Linie wegen der weißen Nächte so massenhaft unterwegs, dennoch erahne ich in dieser Bewachung eine Gewohnheit, die einen von der Polizei durchkreuzten Kontrollstaat wie Deutschland eher blaß erscheinen lässt. Hier spürt man eine andere Gewalt, eine, die nicht fragt, bevor sie den Knüppel schwingt, die nach anderen Gesetzen lebt und handelt (die wir vielleicht in einigen Situationen sogar gesetzlos nennen würden). Auch das werde ich noch zu spüren bekommen, wenn diese eine bestimmte Nacht zu erleben und schließlich auch regelrecht zu überstehen sein wird.

 

Die Polizeiautosirene klingt wie ein überlautes und lästiges Orgelspiel als eine Art Melodie, so dass man die Sirene von überall quer durch die Stadt vernimmt, völlig gleichgültig, wie weit man entfernt ist. Es wirkt auf mich, als ob ein übereifriger Achtzehnjähriger mit seinem Auto vorfährt, um an seinem Wohnort vor Freunden mit seiner neu eingebauten Anlage anzugeben. Die Polizisten hier handeln ähnlich. Wenn sie ihr Gedudel durch die Stadt jagen, ist das durchaus nicht immer ein Zeichen dafür, dass sie augenblicklich zu einem Unfall- oder Gefahrenort eilen, sie stehen mit laufender Sirene und halten mit irgendeinem Menschen ein Schwätzchen, der sich durch ihr Fenster beugt. In anderen Situationen rast dann ein Polizeibus vorbei und lässt einen mit einem Klingeln im Ohr zurück, bis die gewöhnlichen Geräusche der Stadt nach und nach in den Gehörgang zurückfinden.

 

 

6.

Die Bewohner von St. Petersburg sind sehr genügsam und in dem, was sie tun und arbeiten, manchmal auch sehr schwerfällig. Man vermisst eine Logik in den Vorgängen und Handlungsweisen, eine Notwendigkeit oder Richtung. Mit Effizienz kann man schon gar nicht rechnen, und ein gewisser Ehrgeiz ist bei diesen kläglichen Löhnen natürlich kaum zu erwarten.

Meine Großmutter ist der festen Überzeugung, dass es nicht anständig ist, sich über Fehler aufzuregen oder die jeweiligen Beamten, auf die man so in ihrem Tran trifft, darauf anzusprechen, und damit teilt sie wohl die Meinung vieler Menschen. Es schickt sich nicht, auf sein Recht zu pochen oder die Stimme zu erheben, man soll die Menschen einfach machen lassen, gleichzeitig kommt der Verdacht auf, dass viele gar nicht wissen, was „Recht“ überhaupt ist. Sie treiben in diesen Lebenskonstellationen, durch all die Jahre tief geprägt, wie demütige, träge und anspruchslose Menschenplaneten, die schon froh sind, wenn die Schlange, in der sie stehen, voranschreitet, die Papiere, die sie ausfüllen, einen Stempel tragen, das Brot nicht teurer wird. Sie ergeben sich völlig den Situationen, auf die sie Tag für Tag treffen, und wenn Stunden dafür verloren gehen, dann ist das eben so. Die Russen sind es gewohnt, zu warten. Wo sie früher für Nahrungsmittel, Benzin und Kleidung anstanden, warten sie nun auf die Unkompetenz mancher Berufstätigen. Als ob, sobald der Arbeitsantritt erfolgt, dieses Volk das eigene Denken ausschaltet, nur noch handelt und erst wieder auflebt, wenn es Feierabend hat. Dazwischen verwandelt es sich von lebendigen Geschöpfen in mit Lumpen bekleidete Fleisch-Maschinen, (sie sind irgendwie viel zu menschlich, als dass man von Apparaten oder Maschinen sprechen könnte, gleichzeitig aber handeln sie, als müsste jemand bei ihnen den Schalter umlegen), solche eben, die Gewohnheit benötigen, für die es fatal ist, wenn irgendetwas mal anders läuft oder nicht in den natürlichen Ablauf passt.

Da kaufte ich an einem Tag Ölfarben in einem kleinen Künstlerladen, der unscheinbar in einem baufälligen Hinterhof lag, und als ich mich erkundigte, was ich zum Fixieren nehmen könnte, da fauchte mich der Verkäufer an, dass hier nur verkauft, nicht unterrichtet werde. Ich bekam an der Kasse, zu der ich die zwei Meter weiter mit einem Bon geschickt wurde, einen eigenartigen Studentenrabatt. Als ich den Laden verlassen wollte, entschloss sich der Verkäufer dann doch noch, mir ein bisschen „Unterricht“ zu erteilen und begann verschiedene Spraydosen hochzuhalten, die aber alle für Pastell benutzt werden, nicht für Ölbilder. Ich winkte ab, nachdem ich ihm mehrmals erklärt hatte, dass er sich irrte und er weiterhin darauf bestand, dass das irgendwie schon gehen würde, und machte mich aus dem Staub. Auch ein Zeichen, dass „Service“, das normale Beraten durch den Verkäufer, hier eher ein Fremdwort ist. Später, als ich die Ölfarben in ihrem Kasten dann öffnete, musste ich dann auch noch feststellen, dass mehrere Tuben sich voneinander unterschieden, kein einheitliches Bild ergaben und zwei Farben ganz fehlten. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, sagte einst Lenin. Der wusste schon, warum.


Ich wunderte mich schon am ersten Tag über diesen gewissen (Galgen) Humor, als ich über Schlammwege hinweg die Poststelle aufsuchte, die von außen nicht einmal wie ein Haus aussah, sondern eher wie eine zerfallene Baustelle, mit einer Tür versehen, durch die gerade einige Männer mit Bierfl
asche in der Hand traten, um die erforderlichen Anmeldepapiere abzuholen. An der Wand klebten Plakate, auf einem davon starrte Putin streng herab, während darunter stand:

„Arbeitet lieber! Ich sehe euch sowieso!“ 

 
Dort gab es drei Schalter, wobei der für mich nützliche gerade nicht besetzt war. Nichtsdestotrotz standen davor Menschen, eine korpulente Frau, ein grau blasser Typ, dessen Kleidung wirkte, als entstiege er gleich mehreren Kriminalfilmen auf einmal oder einem Patchworkteppich, als eine Gestalt, die sich selbst irgendwie mehr schlecht als recht zusammengesetzt hat, der mit zu großem Militärmantel und französischer Baskenmütze ausgestattet, an den Füßen Sandale trug, durch die dicke Socken quollen. All das war wohl irgendwie zusammengesucht, als eine Art neuartiger Stil verschiedenster Geschmacksnuancen und Zeitabschnitte. Er hielt seinen Koffer fest umklammert, den er mit einem Seil umwickelt hatte, um ihm Festigkeit zu verleihen.
Figuren, wie aus einer Geisterbahn, die so sehr in das Gesamtbild passten, dass man sich wie in einem Film fühlte, wobei der im Militärmantel wirklich kaum lebendig wirkte, weil sein Gesicht fast durchsichtig schimmerte. Vielleicht ein Drogenopfer oder ein übersensibler Typ, der möglicherweise kurz vorm Abnippeln war. Wenn er stand und vor sich hinträumte, wusste man nicht, ob er Mensch oder Wachsfigur war. Hinter ihm, im Sprung durch den Raum, stand einer der Männer, die zuvor mit der Bierflasche eingetreten waren. Dieser irrte in seinem Rausch von Schalter zu Schalter, stellte sein Bier mal hier und mal da ab, nahm es wieder auf, trank zwischendurch einen Schluck aus der Flasche, brüllte, wo denn nun die Postangestellte wäre, lachte und gurgelte, dass er keine Zeit hätte, während die anderen Anwesenden bedächtig nickten. Und doch, während man zwischen all diesen Menschen stand, spürte man den ihnen tief einverleibten und gewohnten Ablauf solcher Alltagsnotwendigkeiten.
 

Irgendwann drehte sich dann auch die dicke Frau um und röhrte quer durch den Raum, dass sie nun schon zwanzig Minuten hier wartete und ob die Pause der Postangestellten denn nun langsam vorbei wäre. Schon schleppte sich ein träges und mürrisches Mädchen heran, die Backen aufgeplustert, was ihr ein mongolisches Aussehen verlieh, tat dabei, als ob man sie belästigte, fragte, was denn nun gewollt würde, bis die Schlange sich dann im Erfüllen der hoch angesetzten Wünsche (wie das Abschicken eines Briefes oder der Kauf eines Pakets) nach und nach verkleinerte.
Der blasse Typ mit seinem Koffer, verwandelte sich vor mir, als er an der Reihe war, in einen schlaksigen Hampelmann, machte einige abgehakt verrenkte Bewegungen, vor und zurück, als kippe er jeden Moment aus den Latschen, wobei er in jeder Position sekundenweise verharrte, beugte sich zu der Mürrischen und knurrte sie in eigenartig abwechselnder, leise und laut werdender Stimme an, als ob man ihm jeweils ein Mikrophon vor die Nase hielt und wieder entzog, sie würde schon sehen, diesmal wären sie schuld, nicht er, er würde dafür sorgen, dass die Dinge aufgeklärt werden, das sei kein Zustand. Der Fehler läge bei der Post, er würde diesmal die Konsequenzen nicht alleine ausbaden. Damit drehte er sich um und verließ den Raum, während die Pausbackige nur träge mit den Schultern zuckte und ihre Lippe kurz wulstig zusammenwölbte. Einige Sekunden später tauchte er schon wieder auf, irrte rastlos hin und her, unentschlossen, was zu tun sei, dabei immer mit diesen abgehakten Bewegungen, und mir schoss durch den Kopf, dass der Koffer vielleicht einen Inhalt barg, der sich gefährlich auf das Postamt samt seiner wartenden Menschen auswirken könnte. Genau so stellt man sich diese Typen vor, die, ohne Vorwarnung, auf einmal bedingungslos in die Menge ballern, weil ihnen alles genommen wurde o
der der Hass auf die Menschen die Vernunft ausschaltet. Er aber schmiss schließlich nur die Tür hinter sich zu und stampfte dann wohl nach Hause oder ins nächste Magazin, um sich eine Flasche zu besorgen. (Wodka kostet in etwa umgerechnet ganze drei Euro.)


Die Menschen trinken hier häufig auf der Straße. Als ich an einem der Tage etw
as einkaufen ging und auf einem mit Gebüschen überwucherten und nicht asphaltierten Schleichweg zurückkehrte, blockierte dort eine ganze Familie - Mutter, Vater, Sohn - den Weg, weil sie auf Ex eine ganze Flasche auf einmal leerten. Mit den Betrunkenen hat man hier Mitgefühl. Man beachtet sie nicht, aber duldet sie. Gerade zu den Feierlichkeiten der weißen Nächte trifft man häufig auf derlei schwankende Gestalten. Die Flasche Bier in der Hand ist genauso üblich, wie die Handtasche am Arm der Frau.
 
 
Endlich waren die notwendigen Papiere ausgehändigt, jedoch nur ein Exemplar, und da wir zu dritt waren, musste man selbstständig Kopien anfertigen, um dann auch drei Exemplare ausfüllen zu können. Es schien glatt unmöglich, dass die Postangestellte drei leere Exemplare aushändigte. Sie sah mich an, als wäre die Frage und mein Bedeuten, dass ich drei benötigen würde, völlig absurd. So gelangte man eine Tür weiter in das nächste Büro, von dem man nur ahnen konnte, um was es sich handelte oder wenigstens jemanden zur Hand haben musste, der sich auskannte.
Auch hier gab es wieder einen Schalter, einen Mann vor dem Schalter, schon den Arm aufgestützt, im Zeichen dafür, dass er Zeit hatte oder ihm schon einiges an Zeit genommen war, und hinter der Glaswand eine Frau, die mit russischer Geduld versuchte, ein Fax zu schicken.

Zwei weitere ältere Frauen standen zunächst, setzten sich dann und gingen. Das Fax aber wollte sich nicht verschicken lassen. Ein Mann kam kurz herein, winkte und rief, er bräuchte nur ganz kurz eine Kopie. Das gleiche Anliegen hatte ich, doch die Frau hinter dem Schalter verkündete ganz gelassen:

"Ist mir völlig egal. Ich versuche jetzt zwanzig Minuten das Fax zu schicken. Ob es klappt oder nicht!“
Damit setzte sie das Drücken des Knopfes fort, unfähig, dazwischen kurz einen anderen Arbeitsablauf einzufügen, wie ein Blatt nehmen, es auf den Kopierer zu legen, es zu kopieren und sich dann wieder dem Fax zuzuwenden, um einen nächsten Versuch zu starten, eine Minute also zu füllen, die sowieso ablief, ohne dass sie etwas am Fax ausrichten konnte, es benötigte ja seinen üblichen Wählvorgang. Ich schaute ihr dabei eine Weile fast schon fasziniert zu. Sie stand und wartete, ohne sich durch Blicke oder Rufe stören zu lassen, als verlange ihr Tun größte K
onzentration. Der Mann hinter mir rief:
„Mit euch erlebt man auch immer wieder etwas Neues!“
... und verließ den Raum. Auch mir verging allmählich die Lust, zwanzig Minuten beim Knopfdrücken zuzusehen, so verschob ich das Kopieren auf ein anderes Mal.

Kurz denkt man natürlich an all die Menschen, die tagtäglich auf derlei Unkompetenz treffen und dann auch noch darauf angewiesen sind, die keine Ausweichmöglichkeit haben. Die meisten besitzen kein Auto, und in dieser Gegend gab es nur gewaltige Schlaglöcher, Schlammwege und zerfallene Bauten. An allem zeigt sich die Armut, das Abgerissene der Kleidung, die müden und häufig alten Gesichter.
Die Umgebung, in der meine Großmutter in gleichen Verhältnissen lebt, ist ein einzigartiger und brüchiger Zerfall, Häuser mit rostigen Türen, in deren Treppenhäuser der Uringestank Brechreiz auslöst, wobei man nicht ausmachen kann, ob er von Tier ode
r Mensch stammt. Das Begehen der Treppen ist eine Herausforderung für sich, wenn manchmal die Kanten so abgerundet oder zersplittert sind, dass man kaum einen Fuß darauf setzen kann. Die Lebensmittel werden in kleineren Magazinen besorgt, die jenseits von Gut und Böse sind, häufig in irgendwelchen Kellern liegen oder in eben diesen Gebäuden, die mich an Bau- oder Wohnwagen erinnern, in denen alles eng und stickig ist und manchmal riecht, als würde man ganz andere Ortschaften aufsuchen. Immerhin aber hatten manche von ihnen 24 Stunden lang geöffnet.

Nach diesen Erfahrungen mit der Post und dem vorerst misslungenen Kopierversuch ging es weiter zur Bank, um das Geld zu bezahlen, damit die Anmeldung überhaupt abgegeben werden durfte. Dort bekam man einen Beleg, damit die Postangestellte, auf die man sich dann irgendwie schon mit Schrecken freute, überhaupt im nächsten Schritt handeln konnte. Wie schon erwähnt, es herrscht keinerlei Logik in den engstirnigen Abläufen. 

Daran muss man sich in Russland sowieso gewöhnen. Alles erfolgt wohl schon seit Jahren nach bestimmter Regelung, die, egal was auch geschieht oder wie sehr sich die Umstände wandeln, nicht unterbrochen oder verändert wird. Nur ansprechen darf man derlei Unbequemlichkeiten nicht, allgemein nicht, auch nicht im privaten Umfeld, dann erwacht der allseits stark verbreitete russische Stolz und das Ausland wird Wort für Wort, manchmal mit starken Übertreibungen, zerfetzt und verspottet. Die Russen schimpfen häufig auf die eigenen Zustände, denen sie unterworfen sind, doch wenn ein Fremder zu schimpfen wagt, dann gibt es eine Art Zwei-Welten-Denken, dann ist das, was ihr Land ist, von außergewöhnlicher Schönheit und Wohlhabenheit, voller Gerechtigkeit und Güte.
Nur ganz kurz streifen dann bestimmte Orte oder Menschen durch das Gedächtnis, die man dann auch schnell wieder verwirft ...

       


 … oder zumindest durch die Allmächtigkeit ehemaligen Reichtums ersetzt.

(Eremitage innen.)


Ja, wirklich schön ist diese Stadt, ein wahres Fest für die Augen jedes Besuchers, nur fragt sich, wem nutzt all diese Pracht, die im Krieg gnadenlos zertrümmert wurde, wo ganze Zimmer geklaut und verschwunden waren, wo all diese Herrlichkeit einstiger, zaristischer Herrschaft immernoch nicht bis in die Wohnzimmer der Bevölkerung reicht.

In der Bank nun zieht man eine Marke und wartet, bis man aufgerufen wird. Nach dreißig Leuten kam man endlich an die Reihe, bewegte sich zum Schalter und musste dann der Bankangestellten erklären, was zu tun war, nicht umgekehrt. Sie wusste weder, wie hoch der Preis war, noch was es mit dem Dokument, welches auszufüllen ist, nun genau auf sich hatte. Nach mehreren Minuten war dann alles irgendwie geregelt, zumindest hatte man schon einmal das Geld b
ezahlt und einen Beleg erhalten. Doch wer nun glaubte, man könnte auf einmal zwei verschiedene Dinge gleichzeitig erledigen, wie in diesem Fall noch Geld wechseln, der war doch eher leichtgläubig, die Dame am Schalter war natürlich für den nächsten Akt nicht verantwortlich und deutete auf einen weiteren Schalter. Bei der Erkundigung, ob es möglich sei, einfach hinüberzugehen, wurde erläutert, dass es erforderlich wäre, eine weitere und neue Marke zu ziehen, was in Anbetracht der Menschenmenge zu ersten, tief überzeugten Seufzern bei mir verführte, die ich kaum unterdrückte.
Gut, man gewöhnte sich schließlich a
n alles, durch die Häufigkeit der Ereignisse dann auch umso schneller, und die Zeit verflog an solchen Orten sowieso irgendwie rasend genug, so wurde nun mit dem nächsten Märkchen aufs Neue gewartet. Die Nummer wurde aufgerufen, jedoch durften erst noch mehrere andere Menschen ihre Marke vorlegen, da sie zusätzlich einen Chip in der Hand hielten, den sie auch alle eifrig vorzeigten. Als ein zaghaftes Wissenwollen, was es damit auf sich hatte, wurde begründet, dass der einzige Geldautomat der Bank gerade ausgefallen war, was bedeutete, dass all die, die einfach nur Geld abheben oder wechseln wollten, erst einmal vorgelassen wurden, während auch sie sich dafür zuvor an einen wiederum ganz anderen Schalter begeben mussten, um besagten Chip zu ergattern.
Mit dem leichten Erschöpfungszustand solcher Bedingungen stand man also weiter vor diesem Schalter, als ein Mann an die Reihe kam, der einen ganzen Beutel voller Scheine auf der Theke ausschüttete. Diese Wertlosigkeit des Geldes, dass hundert Rubel gerade einmal 2,60 Euro waren, was einen Wust an Scheinen mit sich herumzuschleppen erforderte (ich erinnere mich an eine Zeit, als ein Rubel einen Wert von etwa drei Mark hatte) ist schon bekümmernd. Ganz am Anfang dachte ich noch, dass die Russen ihre Münzen als Glücksbringer und Wunscherfüllung überall auf die Straßen und in die Gewässer warfen, wie man es in Rom beim Trevi-Brunnen tat. So kann man sich irren.

 

Der Mann ließ also jenes Geld zählen, als die Angestellte ihm mit reglosem Gesicht erklärte, dass von dem Geld die Hälfte Falschgeld sei. Der Mann, ebenso reglos, erkundigte sich daraufhin, wo er das Falschgeld denn noch umtauschen könnte. Die Bankangestellte zuckte mit den Schultern und meinte, dass Falschgeld wohl nirgendwo angenommen würde. Schon spürte man die erste Unruhe des Mannes, der von Touristen redete, die ihn über das Ohr gehauen hätten.
„Ich kann Ihnen nur das echte Geld wechseln!“ zischte die Angestellte, zählte das Geld und händigte ihm sein Falschgeld lustlos wieder aus.
Lehrreich genug. Es gab in der Bank schon allerlei „Umstände“, so wollte ein alter Mann seine monatliche Rente abheben, als die Bank ihm mitteilte, dass sie keine Geldscheine mehr vorrätig hätte, er sich bis zum nächsten Tag gedulden müsste. Der Mann sagte, dass er das Geld ganz dringend benötigte. Die Bankangestellte gab daraufhin an, dass bis zum Abend kein Geld
mehr eintreffen würde.

So musste der Alte dann einen weiteren Tag hungern.

 

 Hier zeigt sich dann, dass sich das vor 134 Jahren von Dostojewski in seiner Zeitschrift „Tagebuch eines Schriftstellers“ formulierte Bild des hiesigen Beamten kaum verändert hat. Er schrieb:

 

„Jedermann weiß, was ein russischer Beamter ist, besonders einer, der tagtäglich mit dem Publikum zu tun hat: Er ist etwas Böses und Gereiztes, und wenn die Gereiztheit manchmal auch nicht zutage tritt, so kann man sie doch immer im Gesicht lesen. Er ist hochmütig und stolz wie ein Jupiter. Das sieht man besonderes bei den allerkleinsten Beamten, zum Beispiel solchen, die dem Publikum Auskünfte erteilen, Geld in Empfang nehmen, Fahrkarten ausfolgen usw. Sehen Sie ihn sich nur an, er ist gerade beschäftigt, ist „bei seiner Tätigkeit“: Das Publikum drängt sich in einer Polonaise, ein jeder will möglichst schnell seine Auskunft, Antwort, Quittung, Fahrkarte bekommen. Er aber schenkt ihnen nicht die geringste Beachtung. Endlich kommen Sie dran, Sie stehen vor ihm, Sie sprechen zu ihm – er rt Ihnen gar nicht zu, er sieht Sie nicht an er hat den Kopf weggewandt und spricht mit einem hinter ihm sitzenden Beamten,; er nimmt irgendein Papier in die Hand und sieht etwas nach, obwohl Sie den sicheren Verdacht haben, dass er bloß so tut und gar nichts nachzusehen braucht. Sie sind jedoch bereit zu warten, da erhebt er sich geht weg. Plötzlich schlägt die Uhr, die Amtsstunden sind zu Ende. Publikum, scher dich!“

 (… zitiert aus Dostojewski „Tagebuch eines Schriftstellers“, Juli bis August 1876)

 

Wenn sollte es da noch wundern, dass sich diese alten Mechanismen erhalten haben, wahrscheinlich von Beamte zu Beamte und Erfahrung zu Erfahrung weitergetragen haben? So, wie Dostojewski den Beamten beschreibt, so trifft man ihn tatsächlich überall an. Unhöflich, genervt, feindselig, grob und unaufmerksam, immer mit dem Gesichtsausdruck, als würde man Unmögliches von ihm verlangen, wenn man ihn bittet, höflichst seiner Arbeit nachzugehen.

Dagegen sind die, die etwas möchten, die, die vor dem Schalter stehen, grundsätzlich alle sehr höflich und entgegenkommend. Sie warten mit Geduld und Ausdauer, hier noch mit ernsten Mienen, treten dann, wenn sie an der Reihe sind, hurtig vor und wispern in süßester Stimme, was ihr Begehren ist; als würde ganz kurz eine andere Platte aufgelegt werden, um durch eine andere Melodie irgendwie den Beamten zu erreichen, gar aufzutauen. Lässt sich der Beamte mit seiner sauertöpferischen Miene herab, kurz und bündig zu antworten, was selten vorkommt, geschweige denn den eigentlichen Kern der Bitte berührt, die vom Gegenüber vorgebracht wurde, dann verwandelt sich das zuckersüße Lächeln der Bittenden sofort wieder in steinernen Ernst. Sie ziehen eine Wartemarke und reihen sich wie träge Schatten in die nächste Schlange ein.

Lust und Frust. Herrlichkeit und grau düsterer, urtypisch russischer Alltag. Da muss man oftmals wirklich mehrere Augen zudrücken oder die übermäßigen Seufzer unterdrücken. Es ist eine Herausforderung an den Verstand und die Geduld. Das Geld wechselte ich dann schließlich am nächsten Tag. Die Schlange der Menschen mit dem Chip in
der Hand war einfach zu gewaltig, obwohl auf der Anzeige seit einer halben Stunde in roten Ziffern meine Nummer leuchtete. Ich wusste nun einmal, dass es durchaus vorkommen konnte, dass man bis Ladenschluss wartete und dann ganz einfach nicht mehr an die Reihe kam. Das wollte ich dann doch nicht erleben.

 

Aber das russische Chaos schleudert weiter, entfaltet eifrig seine etlichen Dimensionen. So sind zum Beispiel die Preise für den Besuch all der Sehenswürdigkeiten unterschiedlich hoch. Die Russen zahlen z. B. in der Eremitage 100 Rubel, Touristen dagegen 400 Rubel. Die Preise, obwohl schon ungleich, sind also nicht einmal nur verdoppelt, sondern gleich vervierfacht, und zwar überall. Ob man nun den Winterpalast, die Kunstkammer, das russische Museum, irgendeine Kirche, irgendeinen Friedhof betreten will oder direkt nach Puschkin fährt, überall herrscht die gleiche „russische Gerechtigkeit“. Dazu zahlt man dann noch einen Aufpreis, falls man Fotos machen möchte, wobei man natürlich nicht in allen Räumen Fotos machen darf. Schilder verweisen darauf, ob ohne Blitzlicht fotografiert werden darf oder eben ein allgemeines Verbot herrscht.

 

Man hat Glück, wenn man einen Einheimischen an der Seite hat, der versuchen kann, russische Preise zu bezahlen, während man selbst irgendwo leicht abseits steht und sich hüten sollte, zu reden. Wie leicht haben sich Menschen hier schon verraten, weil sie nicht unmittelbar vor dem Eingang, sondern viele Meter vor den jeweiligen Besichtigungsorten ganz unbedacht in ihrer eigenen Sprache sprachen und von irgendeinem Mitarbeiter entlarvt wurden, der extra dafür engagiert ist, um die Besucher zu belauschen. Da kann man sich dann an der Kasse noch so sehr zurückhalten, man trifft nur auf ein Kopfschütteln und muss die „andere Summe“ zahlen.

 
In der Eremitage wird mittlerweile auch ein Ausweis verlangt, man kann also so oder so nicht tricksen. Wer keinen russischen vorlegen kann, zahlt wuchernde Touristenpreise.
Die Russen erklären diese Festlegung der Preise dadurch, dass sie selbst eben weniger Geld verdienen würden als die Touristen. Nur besuchen eben nur Russen mit Geld die Prachtbauten und Ausstellungen, die arme Bevölk
erung sieht man auf jenen Marmorböden und Vorplätzen selten.

 

 

 (Vorplatz der Eremitage)

 

 

 

 

 

Teil 3



 Unterwegs nach Puschkin (Zarskoje Selo)

 

7.

(Puschkindenkmal in... nun ja... Puschkin.)


Bin im Elysium ich des Nordens,
Im Park von Zarskoje Selo,
Wo, Sieger ob dem Leun, voll Kraft, nur müd des Mordens,
Der Reußen Aar schlief, friedenfroh?
Fern, fern ist jene Zeit erhabenen Heldentumes,
Wo, unterm Zepterschutz der kaiserlichen Frau,
Ganz Russland trug den Kranz der Ehren und des Ruhmes,
Und Segen flog von Gau zu Gau.

Ach, alles weckt mit Kummermiene
Erinnerungen alter Zeit.
"Das Große liegt gestürzt, denn tot ist Katharine!"
Seufzt jedes Reußen Herzeleid.
Er sitzt ins Ufergrün im Bann des Sinnens nieder,
Die Lippe spricht kein Wort, den Winden lauscht sein Ohr,

Vor seinem Blick erstehn geschwundne Jahre wieder,
Sein Geist schwingt selig sich empor.

(Puschkin - Erinnerungen an Zarskoje Selo/1814 (Auszug))



Puschkin ist eine Stadt etwas außerhalb von St. Petersburg, wo man das berühmte Bernsteinzimmer im Katharinenpalast betrachten kann und wo Puschkin selbst das Lyzeum besucht hat. Die Stadt hieß früher Zarskoje Selo, wurde zu Puschkins 100. Geburtstag umbenannt. Das war am 10. Februar 1937 und etliche Umbenennungen nahmen ihren Lauf. Das Puschkin-Jubiläum wurde zu einer reinen Staatsangelegenheit. Der damals neu auferstandene Puschkin, der Stalins Russland als neues patriotisches Idol galt, der in neuen Literaturausgaben, neuen Straßen- und Stadtnamen, in neuen Denkmälern zu bewundern war, verdeckte eigentlich nur die Verhaftungen und Verurteilungen etlicher Menschen und bestärkte den Stolz des Volkes auf Land und Partei. Puschkin und die Schauprozesse, die mächtigen Aufmärsche auf dem Roten Platz in Moskau und der durch Kunst, Politik und Machtinteressen gelenkte Jubel der Menge haben in Zarskoje Selo natürlich nichts zu suchen. Zumindest heute nicht mehr.

Dort ist auch Anna Achmatowa aufgewachsen, doch natürlich vermittelt der Ort eine Ahnung an ganz andere Zeiten. Die  Zarenfamilie verbeugt sich in aller Erhabenheit und jenem feinen Gespür für die Verherrlichung ihres Daseins, dem sie auch durch ihre Residenzen Ausdruck verliehen.

Die heutige Stadt Puschkin wird sich kaum von der damaligen unterscheiden, sie wirkt noch heute wie in Büchern beschrieben, wie eine Märchenstadt mit unechten Kulissen, niedrigen Häuschen, Baum umringt, mit kleinen Straßen, Blaskapellen, Souvenirläden und schließlich prachtvollen Palästen.

 

Der Katharinenpalast wurde im zweiten Weltkrieg völlig zerstört, darum originalgetreu wieder nachgebaut. Schimmernde goldene Türmchen, Verzierungen und Spielereien, ein riesiger Schlosspark, die dreihundert Meter lange, barocke Fassade mit rhythmisch gegliederten weißen Säulen, vergoldeten Atlanten, Skulpturen, die mythologische Figuren, Dichter und Denker darstellen, und Fensterrahmen auf hellblauem Grund verschlugen einem regelrecht den Atem, und vor dem Eingang geduldete sich natürlich, wie erwartet, eine lange Schlange an Menschen.  

(Puschkin – der Katharinenpalast, darin das Bernsteinzimmer, das man leider nicht fotografieren durfte.)

 

Hier stand auch ich, die Sonne schien mir ins Gesicht, ich bewunderte die Architektur und blickte mich hin und wieder um, wenn Jubelschreie ertönten, weil ein Brautpaar sich auf den Stufen fotografieren ließ und dann mit Sekt auf das freudige Ereignis anstieß. Geschmackvolle Hochzeitskleider, wunderschöne Frauen, manchmal noch unglaublich jung, denen das Glück dieses Tages ins Gesicht geschrieben stand. Ich klatschte mit ihnen und winkte, wenn sie die Arme hoben.

 

Aus Langweile zog ich irgendwann mit dem Fuß vor mir einen langen Strich in den Sand. Er bildete somit die Startlinie, von der aus ich bald voranrücken würde, sobald die Schlange sich vor mir verkleinerte.

 

Ich sah, dass der Eingang von vier „Wächtern“ bewacht wurde, und alle zehn Minuten eine geringe Anzahl der Meute einließ. Ab und an kamen lärmende Reisegruppen an der Schlange vorbeimarschiert, wurden von neidvollen Blicken begleitet und an einer anderen Glastür sofort eingelassen. Die Busfahrt samt Führung hatte ich eigentlich auch in diesem Sinne geplant, bereits das Geld bezahlt, was mir viel Warterei erspart hätte, doch als ich am nächsten Tag meine Karte vorlegte, teilte mir die Mitarbeiterin des Busunternehmens mit, dass mangels genügend Leuten die Fahrt abgesagt war. Immerhin bekam ich wenigstens mein Geld zurück, was ja nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit ist.

 

Während die Minuten in Zehnerschritten verflogen, mein Blick über Köpfe, Parkanlage, Statuen, die verzierten Fenster streifte, die Schlange hinter mir immer länger wurde, kleine Gruppen der Anstehenden nach und nach weiter eingelassen wurden, mehrere Wartende sich in das Gras vor dem Palast legten, bis sie wieder hochgescheucht wurden – das Betreten des Rasens war verboten - sah ich erneut auf meine Füße und musste feststellen, dass ich keinen einzigen Schritt vorangekommen war. Die Linie lag noch unberührt und unüberschritten vor meinen Schuhen.

 

Das Bernsteinzimmer habe ich dann natürlich doch noch irgendwann in aller Ruhe auf mich wirken lassen. 1716 schenkte es der preußische König Friedrich Wilhelm I. Peter dem Ersten, der sich mit einem kleinen, in Petersburg gebauten Schiff, fünfundfünfzig Grenadiere, einer Dreh-Werkbank und einem eigenhändig aus Elfenbein hergestelltem Trinkpokal revanchierte.

Als der zweite Weltkrieg ausbrach, wurde aus dem Palast etliches evakuiert, jedoch schaffte man es nicht mehr, auch die Wandtafeln des Bernsteinszimmers rechtzeitig zu entfernen, so wurden sie lediglich mit Tapeten überdeckt. Die Wehrmacht besetzte den Palast, demontierte das gesamte Zimmer, verpackte es in siebenundzwanzig Kisten und transportierte es nach Königsberg.

Seit 1945 gilt das Bernsteinzimmer als verschollen, lediglich drei verbrannte Fragmente der florentinischen Mosaike, einen „Turm Möbel“ und eine Kommode wurden wiedergefunden und an Russland zurückerstattet, und dann begann die langwierige Rekonstruktion. 1999 erhielt das Museum auch das florentinische Mosaik „Tastsinn und Geruchsinn“ zurück, das vermutlich vor der Demontage der Tafeln gestohlen worden war. 

Das Zimmer wirkte sogar über sich selbst hinaus bis hinein in die Literatur, denn die Basis der Arbeit am neuen Bernsteinzimmer lieferten ausgerechnet alte Fotografien des Schriftstellers Theophile Gautier aus dem Jahre 1859.

 

Betritt man den Palast, fühlt man sich geblendet, schreitet über Treppen, Marmor, an Ornamenten und Spiegeln vorbei, unter mächtigen Decken und Deckenmalereien dahin. Der Palast wurde Katharina der Ersten geschenkt, Elisabeth die Erste passte ihn dem vorherrschenden Zeitgeschmack an und auch Katharina die Zweite lebte regelmäßig in Zarskoje Selo und ordnete wiederum neue Umbauten an. Sie alle hinterließen ihre Spuren und Geschmäcker, danach folgten auch noch die von Alexander dem Ersten und Nikolaus dem Zweiten.

Raum an Raum gereiht, darin verzierte, blauweiße Öfen, geschritten durch verschiedene Speisezimmer, einem Porträtsaal, einem Gemäldesaal, wo auch immer man eintritt, verliert man sich. Gerade im Gemäldesaal als eine unfassbar barocke Hängung büßt man fast den Verstand ein.

So kann man unter anderem ein Kleid aus Papier bewundern, das Letztere einst getragen hat, einige Salons und Esszimmer, wie natürlich auch die gesamte Zarenfamilie auf großformatigen Gemälden.

Das Bersteinzimmer selbst ist eine detailgetreue Nachbildung des ursprünglichen Zimmers. Lediglich jenes eine Mosaik ist noch im Original erhalten. Und selbstverständlich ist darin wirklich alles aus Bernstein. Die Wände, Sockel, Säulen, Mosaiks, Ornamente und insbesondere mehrere Gemälde, die aus Edelstein und Bernsteinplättchen ein Motiv ergeben. In den Fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts fertigte der Steinmetz L. Siries nach Skizzen des Künstlers Zocchi in Florenz Mosaike mit den Themen der fünf Sinne an. Diese Mosaiken wurden statt Gemälde in die Bernsteinrahmen gefasst. Neben „Tastsinn und Geruchssinn“ an der Südwand, findet man „Geschmackssinn“ an der Ostwand und „Sehsinn“ an der Nordwand.  Die Details sind unglaublich fein gearbeitet, unter durchsichtigem Bernstein liegen Zeichnungen, die durch den Stein durchschimmern. Gesichter, Figuren und Mosaik zeugen von der enormen künstlerischen Arbeit, die hier geleistet wurde. Fotografiert werden durfte nicht, das Herantreten war strengstens verboten. Das übliche Seil trennte den Betrachter von der Herrlichkeit solch wertvoller Kunst. Gruppe für Gruppe wird durch den Palast geführt, während unsere Führerin die Geschichte der einzelnen Räume erzählte, erklang bereits die sonore Stimme der nächsten.

 

Als ich wieder an die frische Luft trat, schwirrte mir der Kopf. Für den Alexanderpalast reichte die Zeit nicht mehr, was mich aber kaum belastete. Durch den Park schlenderte ich Richtung Ausgang und spürte, wie sich der Kopf allmählich leerte.

Sich auszumalen, in solchem Luxus zu leben oder wie überhaupt so leben, das übertraf all meine Vorstellungen. Aus Filmen und Fotografien kann man in etwa nachvollziehen, wie die Zarenfamilie sich präsentierte, speiste, sich langweilte, vergnügte, doch für mich, müsste ich tagtäglich diese Räume durchschreiten, würde es wohl im Bernsteinzimmer enden, als eine ewige Betrachtung in Form und Kunst gemeißelten Prunks feinster Genialität.

  

 8.

Der klaftertiefen Metro entstiegen, stehe ich gleich darauf auf dem Newski Prospekt und begaffe diesen in der Literatur so häufig beschriebenen Platz.Hier ist alles gemacht und gepflegt, restauriert und für das Auge bereinigt. Man gerät fast zugleich in den Strom der Menge, der zügig voranrückt.

(Nähe Metro, Newski Prospekt)

 

Schräg vor mir ist das Dom Kniga, ein übergroßes, uraltes Büchergeschäft, einst das Gebäude der Firma „Singer“, das auch in der Nähe (doch was ist hier schon Nähe bei dieser Gewaltigkeit der Stadt) des „Philosophenschiffs“ liegt, dem berüchtigten und von Gorki ins Leben gerufenen „Haus der Künste“, ein Labyrinth an verschachtelten Zimmern, in denen verschiedene Künstler und Literaten in den Zwanzigern gegen Hunger, Kälte und Wasserknappheit kämpften und auch ihr Leben ließen. Dort entstand die Künstlergruppe der Serapionsbrüder, dort lebten Dichter und Schriftsteller wie Mandelstam, Grin, Samjatin.

Blickt man nach rechts, sieht man die Blutskirche in ihrem ganzen Glanz, ein Ort, wo das Attentat auf den Zaren verübt wurde, so dass als Dank für sein Überleben die Kirche errichtet wurde. Innen sind unzählige, kunstvolle Mosaike, die sich über alle Wände und Höhen und Decken erstrecken. Prachtvoll und gleichzeitig so modern bunt, da alle Farben und Zerstörungen wieder restauriert und ausgebessert wurden. Auf Fotografien kann man die Kriegshinterlassenschaft betrachten, als diese Kirche fast in ihren Ruinen lag. Die Fliesen zertrümmert, Holzbalken, die kreuz und quer über dem Boden im völligen Durcheinander liegen. Zerschmetterte Fenster. Oh schönste Glas- und Glaubenskunst. Eine Bombe, die nicht hochgegangen ist, die als zerfressenes Metall von Staub bedeckt aus dem Stein ragt. Trifft man auf derartige Geschichtsprozesse der Zerstörung, schüttelt man traurig den Kopf ob des Verlustes an Menschenleben, Kunst, Literatur und Architektur, betrachtet schwarzweiße Fotografien an Trümmern und Gänge, die kaum dem heutigen Vergleich standhalten und muss gleichzeitig (und mit einem Anflug an Erleichterung) an Moskau denken, wo etliche Kirchen ganz und gar abgerissen und gesprengt wurden, weil Stalin sein „neues Moskau“ errichten wollte, dass Kunstwerke und Architektur massigen Riesenkomplexen weichen mussten, als Sinnbild des „neuen Glaubens“. Die einstigen Schäden sind nun nicht mehr zu erkennen.
Nur mitten in dieser bunten Vielfalt der Heiligenbilder sieht man ein abgezäuntes Stück Straßenpflaster, welches natürlich genau dem Fleck entspricht, wo der Zar in se
inem Blut lag. Die Kirche wurde, irgendwie makaber, um diese Fast-Todesstelle herum errichtet, gespendet durch den Dankbaren für Gott und Mensch.

(Ansicht Blutskirche, direkt am Newski Prospekt, in der Nähe der Metro)

(Innen, die Mosaike)

 

Von hier aus treibt es mich natürlich sofort zur Eremitage. Man läuft eine Weile und biegt dann rechts ab, gerät in einen Innenhof und durch eine Art Triumphbogen (siehe Bild 2) auf den Vorplatz des Winterpalastes.

(Bild 1 – Vorplatz mit Blick auf die Eremitage)

              

(Bild 2 – Gang durch den Triumphbogen)                       (Bild 3 – Vorplatz zur Eremitage)

 

Direkt in exakter Achse zum Triumphbogen, sobald man ihn durchschritten hat, erhebt sich die Alexandersäule, wie man es in vielen, weltweiten Städten beobachten kann. Erblickt man einen Triumphbogen, ein Tor oder ähnliches, ist nicht weit davon entfernt ein Obelisk oder eine sehr hohe Säule zu finden.

Tiefgreifende Symbolik von männlich-weiblichem Charakter mit gegensätzlich aufeinander wirkenden Energien eines, wollte man den leicht abweichenden Vergleich dennoch wagen, Yin und Yang Verhaltens.

Die Alexandersäule schmückt genau in der Mitte den Vorplatz des Winterpalastes, wurde nach dem Sieg der Russen gegen das napoleonische Frankreich erbaut. Ein Meisterwerk der Architektur, wie so vieles in dieser Stadt. Auf der Säule befindet sich ein Engel, der Züge von Alexander dem Ersten trägt und ein Kreuz zum Himmel erhebt. Fast wäre aus dem reinen Engelsgesicht zu gewissen Zeiten das Stalins geworden, zum Glück kamen diese Pläne nie zur Durchführung.

 

Ich habe ein erstaunliches Glück, da in der Eremitage gerade eine Picasso-Ausstellung stattfindet, die sich über mehrere Ebenen und Räume erstreckt. Wenn z. B. im Ludwig Museum oder noch besser (ist natürlich kein wirklicher Vergleich) im Wallraf-Richartz-Museum eine Ausstellung der Impressionisten stattfindet, dann werden die im festen Bestand enthaltenen Bilder nach unten in die Ausstellung geholt. Die St. Petersburger haben das nicht nötig. Während die Picassobilder an etlichen Wänden, in mehreren Räumen hängen, darunter die blaue Periode, das Bild seiner Frau Olga, seine kubistischen Phasen, alle Bilder von einem einzigen Sammler entliehen, so besitzt das Museum natürlich auch noch zwei weitere Räume, mit festem und unangetastetem Bildbestand, die man nach all den gekeuchten Durchgängen dann noch zusätzlich bewundern kann.

Auch er hängt hier, wie selbstverständlich, Matisse in den gewaltigen Farben seines „Tanzes“. Nun wundere ich, wie sehr sie leuchten und auch über die Größe, die mich ähnlich wie sein Bild „…“ im Centre du Pompidou in Paris bereits erstaunte.

(Matisse)

 

Man kann sich unter bestimmten Maßangaben dann einfach keine genaue Vorstellung machen, wenn man sich die Bilder z. B. in einem Katalog oder Buch betrachtet, und steht völlig überwältigt vor riesiger Leinwand.

Die Räume, in denen die Moderne hängt, sind eher leer. Die, die vertreten sind, findet man „raumweise“, nicht „bildweise“. Von Renoir bis Sisley, Cezanne und Gauguin.

(Raum Gauguin)

 

Zuvor spazierte ich durch die verschiedenen Epochen, durch russische, flämische, niederländische, spanische, italienische Kunst. Vor Ribera und Murillo fiel ich fast auf die Knie. Diese Größe und Genauigkeit. Dieses so lebendige, weiße Fleisch. Auch ein Caravaggio war zu sehen – „Der Lautenspieler“.

 

Manche Bilder sind so gewaltig, dass man die eigene Nichtigkeit verspürt.

(Italienische Kunst – „Der Lautenspieler“ von Caravaggio, an der Tür orientiert und auf sie geblickt, ist das untere, zweite Bild links.)

 

All diese Säle ließ ich nur ungern hinter mich. Auch ohne die Bilder erstrahlten sie in ihrer Prächtigkeit, mit ihren kunstvollen Decken und schönen Böden. Die alten Meister sprachen mich fast noch mehr an als die Moderne, aber vielleicht auch nur, weil die Bewunderung für diese Art der Malerei keine Grenzen hat, man auf einem Bild so viel vorfindet wie auf zehn der folgenden Perioden. Geschichten über Geschichten. Die Bibel, vor uns ausgebreitet. Menschen, so lebendig, dass sie aus dem Bild zu springen scheinen. Später, im russischen Museum, wo ich auf die russischen Realisten treffe, wird mir durch den Schädel fahren, dass, hätten diese Meister die Welt erobert, die Fotografie vielleicht bis heute noch nicht existieren würde. 

 

Gerade treffe ich auf einen neuen Raum - ohne Plan kann man sich in der Eremitage schnell verlaufen, sie erscheint mir so groß wie der Louvre, und wenn man leicht schusselig ist, gerät der Weg auch schon einmal ins Unbekannte – auf einen Raum also, in dem nach den ganzen Rodins noch eine Fotoserie von Picasso und über Picasso hängt, die ich Bild für Bild abschreite, als auf einmal das gesamte Licht abgeschaltet wird und man regelrecht im Dunklen steht. Jedes einzelne Bild ist für sich mit kleinen Lampen ausgeleuchtet, so dass unter diesen Umständen die Bilder auf einmal völlig schwarz und unkenntlich sind.
Schon schlurft aus dem Nebenraum ein Treiber (Aufseher) heran, fuchtelt mit seiner Taschenlampe und fordert alle auf, zügig die Räume Richtung Ausgang zu verlassen, da das Museum schließen würde. Es ist zehn Minuten vor der Zeit. Diese Barschheit, das Voranscheuchen, dass man sich in Finsternis vorsichtig vorantasten muss, durch die Räume läuft, ohne auch noch ein Bild im Vorbeigehen bewundern zu können, entspricht ebenso jener russischen Mentalität. Da wird nicht lange gefackelt, sondern deutlich sichtbar gemacht, dass das Museum sich mehr als genau an seine Öffnungszeiten hält.
Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn man aus Versehen einige Minuten länger bleibt oder sich in diesem Wert an Kunst verirrt, was bei der Anzahl
der Treppen, Etagen und unzähligen Räume durchaus möglich ist. Mit dieser Methode jedenfalls können die Türen dann tatsächlich Punkt 18 Uhr verriegelt werden.

 

 

(Innenhof, wo man auch den Eingang ins Museum findet.)

 

(Seite der Eremitage, geradeaus geht es zur Newa.)

 

Auf dem Vorplatz, der sich endlos vor den Augen erstreckt, ebenso wie dieser riesige grüne Palast mit seinen Skulpturen und Verschnörkelungen, um den man herumgeht und schnellen Fußes mindestens eine halbe Stunde benötigt, stehen Kutschen und Menschen in Kostümen, die bekleidet mit den Prachtgewändern vergangener Zeit herumstolzieren. Man kann sich mit ihnen fotografieren lassen, gegen Aufpreis, das versteht sich von selbst. Die Kleider der holden Weiblichkeit sind wunderschön verziert.

 

Der Platz wird bereits vorbereitet, ein Konzert wird stattfinden, bis die weißen Nächte zu jener Nacht werden, in der sämtliche Schüler und Studenten von ganz St. Petersburg ihre Abschlüsse feiern, die Nacht zum Tage wird und die gesamte Stadt auf den Beinen ist, um das Schiff mit den roten Segeln zu bewundern.

 

 

 

 

 
 

  Teil 4


 


9.     

 

Was also sind die weißen Nächte genau? Man kann nicht sagen, dass die Nacht einfach trüb wird oder auf eine einzige als die Weiße reduziert werden kann. Mehrere Tage lang geht die Sonne ganz einfach nicht richtig unter, was bedeutet, dass man um 23 Uhr oder Mitternacht aus dem Fenster blickt und denkt, es wäre drei Uhr nachmittags. Das verwirrt natürlich, sowohl im eigenen Zeitgefühl als auch in der Müdigkeit. Taghell ist die Nacht, der Himmel blau, und der Schlaf lässt auf sich warten. Erst in den frühen Morgenstunden wird es leicht dunkel.

Ich habe überhaupt sehr wenig geschlafen. Wir waren zunächst zu viert in der Wohnung (meine Großmutter besitzt lediglich drei winzige Zimmer), so schliefen zwei in einem Zimmer, ein weiterer auf der Couch im Wohnzimmer und sie eben in ihrem Schlafzimmer, wo nicht selten bis zum frühen Morgen das Licht brennt, weil sie lange zu lesen pflegt. Das Bad und die Toilette sind auf zwei Räume aufgeteilt und unheimlich klein, dass man sich kaum drehen kann. 


Doch die Wohnung samt ihrer Ereignisse unterliegt einem beständigen Wandel, denn die Russen sind feierfreudige Menschen, und wenn die Enkelin schon einmal zu Besuch ist, dann wird die gesamte Verwandtschaft, Bekanntschaft und Nachbarschaft eingeladen. Das bedeutet, die Zimmer werden neu zugeteilt, die Betten neu belegt, denn jene Bekannten und Verwandten kommen von weit her, reisen von Datschen und Vororten an und können nicht am selben Abend zurückfahren. Leicht kann es passieren, dass man einige Nächte lang das Bett teilen muss.

Das kostet schon einiges an Überwindung, gerade, wenn man sich an keinen erinnert, weil man selbst beim letzten Treffen mit der Bekanntschaft gerade einmal zehn Jahre alt war, von jedem unbekannterweise umarmt und geherzt wird, natürlich die obligatorischen Kind-Erwachsensein-Vergleiche über sich ergehen lassen muss. Dann wird gespeist und getrunken, und jeder sitzt am Tisch und referiert reihum einen Trinkspruch, die Leute haben viel zu sagen. Da fließt Dank und Gruß, Bewegtheit und Geschichte, auch so manches Gedicht über die Lippen, man umarmt sich erneut, und die Stimmung ist laut und ausgelassen, während am blauen Himmel gegen Mitternacht blaß der Mond zu sehen ist.

Die Gläser werden immer wieder neu mit jener klaren Flüssigkeit gefüllt, bis jemand den Selbstgebrannten hervorholt und versucht, die Leute zum Trinken zu nötigen, um herauszufinden, wie sein Gesöff wohl wirken mag, wobei es hier ratsam ist, sich schnell auf die Toilette oder auf den Balkon zurückzuziehen, während der Balkon die schlechtere Wahl ist, man dort umzingelt von Gerümpel und alten Säcken steht und irgendwie dann doch nicht richtig entkommt. Ablehnen aber ist unhöflich, genauso wie der totale Suff, es sei denn, sie versinken alle gleichzeitig darin. Dann holt einer die Gitarre hervor und zusammen werden russische Volkslieder in die helle Weite getragen, bis die Wangen von innen glühen, die bevorstehende Nacht der Enge keine Rolle mehr spielt, man Geschichten erzählt, sich mit Salaten, Bilischi, Pelmeni (die werden in vielen Cafés und Restaurants übrigens in kleinem Töpfchen serviert, mit einem Klecks Smetana (saure Sahne, die aber anders schmeckt als die, die wir kennen)), mit Krebsfleisch, roter Bete und Fisch vollstopft, um all das Flüssige irgendwie zu kompensieren, und der Blick allmählich glasig und schielend wird. Doch man kommt, ob man will oder nicht, kaum um diese Sitte herum, da wird immer wieder aufgetischt, wie wenig auch ansonsten da ist, die Leute sind fröhlich und zeigen, wer alles geheiratet, wer alles Kinder bekommen hat, kurz: wer sie sind. Bescheidene und trotz aller Widrigkeiten lebensfrohe Menschen, die man schnell ins Herz schließt und wenn man wieder fährt, lange zu kennen glaubt.

Meine Großmutter besitzt wenig Geld, hat lange bis ins Alter gearbeitet und bezieht eine magere Rente, die für nichts ausreicht. So geht es vielen Russen, aber ich habe auch andere erlebt, Architekten, die einige Angestellte, ein schönes Auto und zwei Büros besitzen. Diese können es sich leisten, den Touristen herumzukutschieren und ihn mit Insider-Informationen zu versorgen. Armut aber ist immer sichtbar. Sie zeigt sich im Staub, in den Wänden, in den Gesichtern. In Gewohnheiten und sogar in Zähnen.
Bei meiner Großmutter ist die Bude zerfallen, auf die Stühle wagt man sich kaum zu setzen, die Schränke stehen zur Hälfte offen, da sie sich nach der langen Zeit im Gebrauch nicht mehr schließen lassen, das Geschirr ist bunt zusammengewürfelt und stark zerkratzt. Die Messer sind stumpf, wie lange man sie auch schärft. Der Teppich zerschlissen.
Das Essen im Kühlschrank ist oftmals längst abgelaufen, wird aber (man wage es nicht) sicherlich nicht weggeschmissen. Ein Fremder benötigt hier einen doch eher robusten Magen (oder spüle gegebenenfalls mit Wodka).
Ich bewundere, wie geschickt diese Frau mit all dem zurechtkommt. Sie ist fast 87 Jahre alt und rennt schneller als ich, hat eben mal für acht Personen ein ganzes Essen bereit, kocht aus wenigen, manchmal befremdlichen Zutaten die schmackhaftesten Speisen und spielt Rommé bis tief in die Nacht.
Die Möbel, Betten und Zimmer sind allesamt kleine Ruinen für sich, doch sie besteht darauf, diese zu behalten, da in ihnen all das Andenken anderer Zeiten ruht, Erinnerungen an ihren verstorbenen Sohn und Mann, deren Tod nur eine Woche auseinander liegt. Unter der Couch, die keinerlei Bequemlichkeit bietet, wie auch sonst nichts im Raum, lagern Konserven und Gläser, deren Inhalt leicht obskur erscheint. So würde ich mich nicht wundern, wenn ich unter diesen gläsernen Gefäßen ein eingelegtes Embryo oder Augen entdecken sollte. Wer arm ist, muss sich zu helfen wissen, wie alt die Sachen sind oder um was es sich dabei genau handelt, könnte ich nicht sagen. In der ganzen Wohnung sind solche Gläser verteilt, und wenn etwas nicht mehr schmeckt, wird es als Schüssel auf den Balkon, der sich in der zweiten Etage befindet, für die Katzen und Vögel bereitgestellt, oder für anderes Getier, von dem man sich lieber keine Vorstellung macht. Einer der Bekannten, ein starker Trinker, der mit seiner Freundin angereist kam, die früher mit dem verstorbenen Sohn meiner Großmutter zusammen war, erzählte, er hätte vor dem Eingang eine Ratte gesehen, die so groß wie ein fetter Kater war. (Flüchtig glimmt der Gedanke auf, ob die Ratte vielleicht rosa war.)

Der Zusammenhalt dieser Menschen ist groß, auch wenn es immer Schwierigkeiten gibt. Obwohl keine Bindung zwischen der Frau und meiner Großmutter mehr bestehen müsste, kümmert sie sich, so gut sie kann, trotzdem um sie. Was einst war, wird nicht einfach gelöst. Nicht einmal, wenn jemand stirbt. Ihr neuer Lebensgefährte hat seine Macken, die nicht leicht zu verdauen sind. Der Suff zerstört die Menschen, hat sowohl den einen das Leben gekostet, wie dem anderen etwas vom Leben genommen.
Er besitzt eine Einzimmerwohnung in Kirischi, und wenn er nichts zu trinken hat, dann wirft er sie manchmal einfach hinaus. Da reicht es schon, wenn sie nur anfragt, ob man den Fernseher leiser stellen könnte, der von morgens bis abends durch das Haus schallt.
Ich mag solche Leute nicht, aber eigentlich geht es mich auch nichts an. Sie wohnen ansonsten auf einem kleinen Grundstück, in einem Bauwagen, den sie um eine Etage aufgestockt haben. Wenn man dort auf das Plumpsklo geht, trifft man auf eine schwarze Wand von Fliegen, dass so mancher Gast genötigt ist, sich stattdessen davonzustehlen und sein Geschäft irgendwo in der Wildnis zu erledigen.
Nun hat ausgerechnet der Sohn jener Frau, der nicht von ihm, auch nicht vom Sohn meiner Großmutter, sondern von einem wiederum ganz anderen Mann stammt, eine Frau geschwängert, die wesentlich älter als er selbst ist. Nichts anderes als eine Heirat kommt in Frage. So teilen sie sich jetzt diesen Wohnwagen, der kaum für zwei Leute reicht, zu fünft, bis das Kind da ist, denn die wesentlich ältere Frau hat bereits einen Sohn im Teenageralter.
Die Wohnungsnot ist hier unbeschreiblich. Etliche der neu hochschießenden Gebäudekomplexe stehen leer, da sich kaum jemand die Miete leisten kann. Familien tauschen die kleinen, oftmals schäbigen Mietswohnungen untereinander aus. Wenn eine Tochter in einer anderen Stadt studieren will, dann wird bei Tanten und Onkeln nachgefragt, wo sie unterkommen kann. Viele haben zwei Jobs, um die immense Summe der Miete aufzubringen. Sich auf ein Grundstück oder jene Datschen zurückziehen zu können, ist schon ein Glücksfall.


Ich hatte viel Zeit, die Umstände, das Leben meiner Großmutter zu beobachten, Einblick in ihren Alltag zu erhalten. Diese Frau ist ein reines Phänomen, gerade wenn ich dagegen andere, gleichaltrige Frauen betrachte. Sie hat so vieles erlebt, vor zweieinhalb Jahren eben jenen Überfall, wo der Einbrecher sie nicht nur berauben wollte, sondern auch noch hochheben und gegen die Wand werfen musste, als würde eine alte Frau eine unsagbare Gefahr bedeuten.
Ich habe diesen einen Knochen gesehen, der aus ihrer Schulter bis durch das Kleid hindurch deutlich hervorsteht und sich anfühlt, als wäre er ein Fremdkörper. Er ist nach dem Einrenken irgendwann durch eine ungünstige oder zu schnelle Bewegung wieder aus dem Gelenk gesprungen. Kein Geld für Operationen. Kein Geld, um beraubt zu werden. Der Körper, obwohl so zerbrechlich, hält erstaunlich gut zusammen, doch der Schmerz muss unerträglich gewesen sein.
Sie aber kümmert das nicht. Sie grinst und zeigt ihre noch echten Zähne. Einige sind leicht abgebrochen, auch dafür ist kein Geld im Haus, was sie nicht bedrückt. Die Eitelkeiten legt man in Russland schnell ab, wenn es gilt, zu überleben. Manchmal könnte man meinen, sie hätte nur darum so gute Zähne, die so lange halten, weil sie keine Alternative hat.
Mein Großvater war da nicht ganz so gut bestückt. Er kam einmal dazu, als wir als Kinder jenes Spiel spielten, bei dem man auf bestimmte ärztliche Geräte tippen und sie dem richtigen Körperteil zuordnen muss und dann richtig oder falsch liegt. Als er uns sah, ließ er sich in den Sessel fallen, öffnete den Mund, forderte mich, die ich ein Plastikabhörgerät um den Hals trug, um das Spiel realistischer zu machen, auf, ihn zu untersuchen, ihm würde der Zahn wehtun, und nahm dann, ohne dass man es vorhersehen konnte, einfach sein Gebiss heraus. Danach lachte er lange über unseren Schreck.


Meine Großmutter ist, durch ihr Leben geprägt, recht knauserig geworden und lässt sich wenig schenken oder kaum helfen. Wenn man eine Wurstsorte (irgendeine russische, recht schmackhafte Salami) kauft, die sich um fünfzig Cent von der Sorte unterscheidet, die sie sich sonst alle drei Monate in gezählten Stücken gönnt, dann wird sie ungemütlich und erklärt, man würde prassen. (Gleichzeitig aber, sobald sie sich daran gewöhnt hat, langt sie dann ordentlich zu, schneidet sich dicke Stücke ab, als ob das Schimpfen lediglich die Tradition erfordert.) Man kann sie auch nicht austricksen, denn sie kennt alle Preise. Das ist in vielen Situationen so, z. B., wenn man überlegt, weil man wenig Zeit hat, ein Taxi zu rufen, statt auf Bus und Bahn zurückzugreifen. Dann schüttelt sie erbost den Kopf und nennt die zahlreichen Busnummern, die alle in die gewünschte Richtung fahren, und man kann es irgendwo verstehen.
Gerade hier, im Vergleich, erkennt man, dass die eigene Anspruchslosigkeit immer noch reich und sättigend ist, und man solche Art an Hunger oder wirklicher Armut überhaupt nicht kennt.
 
Vor einigen Jahren schenkten ihre Verwandte ihr einen neuen Fernseher, vielleicht, ohne groß nachzudenken, denn ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie sie vor diesem unnötigen Gerät steht und das Geld in Essen umrechnet. Dieser Flachbildschirm wirkt regelrecht fehl am Platz, abstrakt und nicht ins Bild passend. Die Tapeten sind graubraun, die roten Teppiche längst von der Wand genommen, der Tisch und Rest spärlich.
Sie guckt natürlich Fernsehen, besonders gerne Sport. Auch die WM wurde trotz der Nichtteilnahme der Russen übertragen, die Spiele sogar wiederholt, so dass man sie nachts noch einmal sehen konnte, was wir auch zu Genüge taten.
Mich wunderte allerdings die Art, wie die Russen Filme gucken. Da wird nicht synchronisiert, auch nicht mit Untertiteln gearbeitet. Man sieht einen Schauspieler und eine Schauspielerin, die sich unterhalten, und eine Stimme übersetzt einfach das von beiden Gesagte, während die echten Stimmen dahinter immer noch leicht verzögert zu hören sind. Ich hätte das kaum mitbekommen, da der Fernseher nur nebenbei lief, wenn nicht auf einmal die Frau in dem Film mit männlicher Stimme gesprochen hätte.

Die andere Wand des Wohnzimmers schmückt ein reichhaltiges Regal voller Konvolute von Dostojewskij, Tschechow, Leskow, Tolstoi, Gogol, Bulgakow, Veresaev, aber auch Jack London und Remarque. Diesen liebt sie. Sie liest ihn immer, wenn sie sich traurig fühlt, besonders gerne „Drei Kameraden“, und wenn dann die Tränengewalt aufgrund der tragischen Geschichte hervorbricht, fühlt sie sich wieder besser. Ein Selbstreinigungsprozess.
Sie hat mir Fotografien gezeigt, als sie zwanzig Jahre alt war und studierte. Dort deutete sie auf mehrere Männer, die ihr den Hof gemacht haben. Die Aufopferungsbereitschaft und Sorge meines Großvaters, der sich bei ihrer Freundin ständig erkundigte, wie es ihr ginge, als sie eine Woche krank war, war dann wohl der ausschlaggebende Grund, diesen jungen Mann näher zu betrachten, um ihn dann schließlich zu heiraten, zu lieben und viele Jahrzehnte mit ihm zu leben. Für mich sind diese Erinnerungen berauschend, sowohl die ihrigen, als auch die meinigen, das Kind, das ich einst war, als ich in diesen Räumen verkehrte und dort alles viel größer wirkte.
Ich betrachte ihr Gesicht und finde darin einen Ausdruck, der in Marmor gegossen oder gemalt gehört. Und an der Wand in der Küche hängt immer noch das uralte Radio, das ich bis heute nicht vergessen habe.

Diese eine weiße Nacht, auf die alle St. Petersburger ungeduldig warten, die Nacht der purpurnen Segel, gestaltet sich folgendermaßen: Man geht etwa gegen 20 Uhr abends von der Metro Richtung Eremitage. Schnell erkennt man, dass der Vorplatz zum Winterpalast, den man zuvor durch den Triumphbogen erreichte, gesperrt ist, da dort ein Konzert für die Schüler und Studenten stattfindet, wobei von der Bühne sowohl gesungen als auch ein Hoch auf das Wohl und den Erfolg der Schulabgänger ausgerufen wird. So muss man, ist man nicht Schüler oder Student, ganz außen herum und gelangt, über eine Straße hinweg, in einen Park, der an die Newa angrenzt, auf der sich die einzig offene Brücke befindet, von der aus man das Schiff mit den roten Segeln sehen kann. Pünktlichkeit macht sich hierbei bezahlt, gleichzeitig sollte man an so einem Tag darauf verzichten, sich zuvor mit allerlei anderen Besichtigungen zu vergnügen und herumzuschlagen, was ich natürlich nicht beherzigt habe.
Als ich nun durch den Park in der Nähe der Newa schlendere, entsteht eine eigenartige Unruhe um mich herum, die Menschen wechseln die Richtung und drängen schneller als zuvor in Richtung Fluss. Ich blicke mich um und sehe auf einmal eine lange, Seite an Seite, langsam voranschreitende Reihe von Polizisten. Ich muss zweimal hinsehen, um diesen Anblick zu erfassen und ernst zu nehmen. Doch er ist wahrlich real, Schulter an Schulter schreiten sie voran und treiben die Menschen in voller Präsenz aus dem Park, fordern dabei zur Eile auf. In der Hand schwingen sie ihren Schlagstock.
Die Miliz ist hier, wie gesagt, überall SEHR präsent, sie stehen nicht zu zweit oder dritt, sondern gleich rudelweise herum, doch dieser Akt in Uniform verwirrt trotzdem. Man denkt sich ja auch kaum etwas Abstrakteres, wenn man sich auf diese weiße Nacht einstellt. Gerade noch ein paar Pelmeni geschlürft, fühle ich mich zwischen den Polizisten wie von Soldaten umringt, die gerade frisch vom Schiff oder aus irgendeinem Bus klettern, auf Besuch oder Urlaub sein könnten. Bilder schießen mir durch den Kopf, von Zügen, aus denen Hände zum Abschied winken und ein Heil auf das Land ausgerufen wird. Zum Glück herrscht hier im Moment Frieden.
Der Vergleich mit deutschen oder griechischen Polizisten liegt bei solchen Erlebnissen natürlich irgendwie nahe und hält doch nicht stand. Trotzdem habe ich auch anderes erlebt. Als ich einmal nach langer Überwindung an einen dieser soldatischen Polizisten herantrat, um mich nach einem Taxistand zu erkundigen, da lächelte mich diese Uniform mit einem wahren, menschlichen Gesicht an und zeigte mir nicht nur den Weg, sondern begleitete mich sogar bis vor ein Taxi, vor dem er mir zuraunte, es wäre sogar günstiger als die anderen. Bei solchen Erlebnissen wird man dann leicht versöhnlich, doch im Moment herrscht ein anderer Zustand.
Wie Vieh nun durch diesen Park getrieben, sehe ich auf einmal, wie leer die riesigen, sechsspurigen Straßen geworden sind, kein einziges Auto fährt mehr. Alles wird nach uns abgesperrt. Wo ich zuvor noch überlegte, ob wir nicht viel zu früh dran wären, sehe ich jetzt, dass wir, wären wir auch nur etwas später gekommen, nicht mehr durchgelassen worden wären. Die Polizisten reagieren da auch ziemlich strikt, stellt man ihnen eine Frage, antworten sie auf alle Fragen in gleichem Standartsatz. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Gehen Sie weiter.“ Leicht zu übersetzen in: Verschwindet gefälligst. Wir tun, was man uns sagt.
Alles wird zugleich abgesperrt, um den Platz zur Eremitage, die gesamte Frontseite der Newa, die ansonsten dicht befahrenen Straßen, all das wird ohne Vorwarnung zum Verbot erklärt, denn dort, hinter den Bändern, werden in wenigen Stunden zig Tausende an Schülern und Studenten laufen und feiern. Noch habe ich keine Vorstellung davon, überhaupt kann ich mir nicht begreiflich machen, was hier geschehen, wie sich solch eine Nacht gestalten wird.
Ich freue mich auf dieses Unbekannte, darauf, bald all das zu erleben, das Konzert und die Feierlichkeiten, ich wusste ja auch noch nicht, dass hier andere Sitten herrschen, der Kapitalismus sein hässliches Gesicht zeigen wird. Man verwandelt sich zum Gefangenen dieser Stadt, dieser Nacht, die den kleinen Menschen gnadenlos verschlingt.
Es gibt eine Brücke in der Nähe der Kunstkammer, das überhaupt erste Museum in St. Petersburg, in der auch die Kuriositätensammlung von Peter dem Großen zu finden ist, der seinem Volk mit missgebildeten und anderen ausgestopften Gestalten die Wissenschaft näher bringen wollte, während der Eintritt frei war. Eines der kuriosesten Ausstellungsstücke neben dem Abnormalen und ausgestopften Tieren sind die in Alkohol eingelegten Köpfe der Liebhaber von u. a. Katharina der Ersten, die ich im Katharinenpalast auf einer riesigen Leinwand in ihrer ganzen Hässlichkeit bewundern konnte. Überhaupt sah man da das Herrscherblut, die stämmige Bereitschaft zum Regieren und Unterdrücken.
Von der Brücke aus hat man den besten Blick auf das Schiff und Feuerwerk. Sie liegt direkt mit Ausblick auf die Peter und Paul-Festung, auf die roten Säulen, auf denen später oben die riesigen Flammen gezündet werden. Rechts hat man die beste Sicht auf die Eremitage. Die Fahnen, die Russland repräsentieren, flackern und schlagen laut im Wind. Das Wetter ist durchwachsen, irgendwie haben wir Glück. Es regnet erst, als wir wieder abreisen, dazwischen gibt es Temperaturen von 12 bis 26 Grad, manchmal grell blauer Himmel mit Wolken, dann wieder (häufiger) die dicht verhangene Schleierbewölkung. Man kann nicht ohne Jacke aus dem Haus, diese aber gleichzeitig auch nicht die ganze Zeit tragen. Gerade in den Bussen und in der Metro herrscht eine stickige, fast unerträgliche Luft.

 


(Brücke, mit der Kunstkammer im Hintergrund, auf der bald die Massen auf das Segelschiff warten.)

 

Warum nun ein Frühkommen so sinnvoll ist, erklärt mir ein Einheimischer, ist das auf diese Weise Sichern bester Plätze, damit man überhaupt etwas sieht. Man ist hier durchaus nicht alleine (weil ich kurz an so manchen Deutschen denken muss, der sich mit dem Handtuch um vier Uhr morgens seine Strandliege sichert), die Russen handhaben das grundsätzlich und jedes Jahr in dieser Form. Sie kehren nach Feierabend kurz in ihre Häuser zurück, machen sich frisch und ziehen am frühen Abend los, samt Kindermeute und Bekanntschaft, bringen ihre Getränke und Chips direkt in einer Plastiktüte mit.
Zusätzlich, in dieser einen Nacht, die sich im Russischen Alyje Parusa - Purpurne Segel - nennt, in der die Schüler ihren Abschluss feiern und aus allen Teilen der Stadt zusammenkommen, um am Newski Prospekt und seiner Umgebung, auf dem Platz der Eremitage und am Ufer der Newa für ihre Mühen und Strapazen all der Jahre des Lernens belohnt zu werden, fährt Punkt 23 Uhr ein Segelschiff los, um den längsten Tag anzukündigen und damit die Sommerwende. Dafür strömt ganz Petersburg an die Newa, in der Metro konnte man schon tagelang vorher die Werbung für die purpurnen Segel begutachten, die neben der Ankündigung zur Sommerwende auch Symbol für den Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt sind, der Glück verheißend sein soll. Die Feierlichkeiten werden vom Staat bezahlt und organisiert, und diese besagte Nacht gehört genauso zu St. Petersburg wie die Eremitage. 

Alexander Grin schrieb 1923 den Roman „Alyje Parusa“, ein sehr beliebtes Jugendbuch, das die Grundgeschichte erzählt. Ein Mädchen namens Assol wächst unter Fischern an einer rauen Meeresküste auf. Eines Tages verkündet ihr ein Märchenerzähler, dass bald ein Schiff mit Purpursegeln am Horizont erscheinen werde und damit den Grundstein für eine große Liebe und ein besseres Leben legen wird. Seitdem wartet sie auf dieses Schiff, ohne auf den Spott der anderen zu hören. Gleichzeitig träumt ein Junge namens Grey von der Seefahrt. Er wird Kapitän auf einem eigenen Schiff und erfährt eines Tages die Geschichte des Mädchens Assol. So bricht er auf, um das Märchen wahr werden zu lassen.

 

Ich kann es noch kaum glauben, denn die Brücke ist sporadisch mit Leuten besät, natürlich ist das Geländer zum Fluss hin schon dicht besiedelt, aber im Vergleich zur Größe der Brücke wirkt alles noch leichtlebig und unvorstellbar, dass sich bald darauf so viele Menschen tummeln werden. Wir ergattern einen guten Platz, stehen also an diesem Geländer und… beginnen zu warten. Es ist gerade einmal einundzwanzig Uhr, das Schiff soll in zwei Stunden losfahren. Ich fluche leise vor mich hin, bin die ganzen Tage so viel gelaufen, dass mir die Beine unerträglich schmerzen, ich kaum noch stehen kann. Ich male mir aus, wie lange zwei Stunden sind und bemerke, wie sich meine Augen weiten, wie irgendetwas darin sich langsam bis in meinen Hinterkopf zurückzieht und einen leichten Schwindel bewirkt. Zwei Stunden gehen so schnell vorbei, hat man ein Buch dabei oder irgendeine Beschäftigung. Mir aber hier klarzumachen, dass ich nun zwei Stunden auf die Newa starren werde, dazu schon jetzt tierisch erschöpft bin, keine Möglichkeit habe, mich irgendwo hinzusetzen, sondern gezwungen bin, den Platz zu halten, das Geländer mit der mir geratenen guten Sicht beständig zu besetzen und stets im Auge zu behalten, erscheint mir leicht unheimlich.


Was soll’s, denke ich mir schließlich. Stehen und die Stadt betrachten. Mal einfach so, ohne besonderen Anlass oder irgendein Ziel. Die Schiffe bewundern. Auch darin kann Muße liegen. Die Gedanken fliegen mir durch den Kopf, von all dem, was schon war und all dem, was noch kommt, wobei letzteres keine klaren Konturen annimmt. Doch was sich auch immer anbahnen mag, ich fühle mich bereit.
An den Kiosken wird jetzt kein Bier mehr verkauft, wohl um übermäßige Unruhe zu verhindern. Es gibt einige Eiswagen, bei denen man alkoholfreie Getränke und eben Eis kaufen kann. Die Menschen bringen sich ihre Getränke selbst mit. Man sieht bereits einige mit riesigen Flaschen, in denen Wodka, Rum mit Cola und anderes gemischt ist, die nur halb gefüllt sind. Die Jugendlichen sitzen auf den Balustraden und lachen, lassen die Beine baumeln, die Familien und anderen Menschen suchen sich ihren Platz auf der Brücke.
Ich blicke weiter auf das sprudelnde Wasser der Newa, bestaune einige schnell dahin rasende Boote, ab und an kommt auch ein Schiff mit einer ganzen Meute feiernder Schüler vorbei, die uns zuwinken, laut jubeln und grölen und ihre Gläser schwingen. Man erklärt mir, dass die Eltern lange Geld sparen, um ihren Kindern diese Feier auf einem Schiff zu ermöglichen. Die meisten können sich das natürlich nicht leisten. Selbst die Schiffe unterscheiden sich, so sieht man die Schülermeute sowohl auf Ausflugsschiffen wie auch auf zerfallenem und rostigem Tuckerkahn mit eigenem Kapitän.
Auch kommen richtig elegante Yachten vorbei, darauf dann lediglich zwei oder drei Menschen, manchmal noch umzingelt von ihrem Personal. Sie suchen sich vom Wasser aus einen guten Platz, müssen sich beeilen, denn nachher wird auch der Fluss, wie schon zuvor die Straße, gesperrt.
Die Peter Paul-Festung glänzt mit ihren goldenen Kuppeln und Türmchen, davor ist eine lange Schiene mitten ins Wasser gesetzt, auf der gerade einige Flammen nacheinander hochschießen. Wusch. Wusch. Wusch, tönen sie bis an mein Ohr. Die Raketen und Zündungen des bevorstehenden Feuerwerks werden noch einmal überprüft, nichts darf schief gehen. Ganz im Hintergrund erkenne ich die blaue Kuppel der Moschee, die in der Nähe des Leninbalkons liegt und die ich später bewundern werde.

         

 

Dann fällt mein Blick auf die Eremitage in ihrer ganzen, abendlichen Schönheit.

 

Ich überlege kurz, wie schön es wäre, wenn ich irgendwo auf ihrem Dach stände und von dort die Aussicht genießen könnte. Ob durch diese edlen Räume jemand schlendert, wenn niemand mehr da ist, wenn die Tore verschlossen sind? Was für ein Genuss muss es sein, in diesem Prachtpalast von Raum zu Raum zu spazieren und inmitten der geballten Kunst zu schwelgen, während kein anderer Schritt stört, danach auf das Dach zu steigen und zwischen Neptun und anderen Statuen das Schiff mit den roten Segeln zu betrachten. Ich würd’s mir gefallen lassen, denke ich belustigt.

Tatsächlich sehe ich zwischen zwei Statuen wirklich eine Silhouette, die sich aber so selten bewegt, dass ich nicht genau weiß, ob die Bewegung nun meiner Einbildung oder der Wirklichkeit entspringt.
Neben uns, in einer kleinen Ausbuchtung der Brücke, bauen verschiedene Presseleute ihre Kameras und Fotoapparate auf. Nicht weit entfernt entdecke ich eine
n riesigen Kran, und als mein Blick seinem aufgerichteten Hals folgt, erkenne ich hoch oben eine Kamera und einen Menschen, der diese Kamera bedient. Solch einer muss schwindelfrei sein.   

    

 

Ein weiteres Spektakel auf der Newa ist das Hochgehen aller Brücken, die sich nach und nach öffnen, um die großen Schiffe durchzulassen. Als Kind habe ich diesem Ereignis einmal beigewohnt. Ich spekuliere, welches der auf dem Fluss liegenden Schiffe wohl das besagte Segelschiff sein würde, entdecke zwei in Frage kommende Schiffe, deren Masten sich dreifach nebeneinander erstrecken. Später erfahre ich, dass es sich weder um das eine noch um das andere handelt. Eines davon ist sogar ein fest im Hafen liegendes, wunderschönes Schiff, das ein Restaurant ist und nicht weit von der Aurora liegt. Eine der Brücken aber, das weiß ich, wird sich öffnen, und darunter hervor wird das Schiff seinen Weg nehmen, seine Kreise ziehen und dem Jubel der Menschen begegnen.


 

 

 



 Teil 5

 

Unter der Brücke, auf der wir stehen, fährt auf einmal ein riesiges Schiff hindurch, das aussieht, als würde es eines dieser großen Rundfahrtschiffe sein. Ich finde, sie sind etwas spät dran, zudem wundere ich mich, da ich noch am Vormittag erfahren habe, dass am heutigen Tag keine Schiffstouren mehr stattfinden. Sowohl das Jazz-Schiff, wie auch die Fahrten nach Puschkin fallen ins Wasser. Ich hatte wirklich Glück, mich für den Katharinenpalast mit seinem Bernsteinzimmer noch rechtzeitig entschlossen zu haben. Einen Tag nach mir wurden der Park und der Palast für zwei Wochen geschlossen. 

Auf dem unter mir langsam dahin gleitenden Schiff erkennt man wuselnde Bewegungen von in weißem Hemd und schwarzer Hose gekleideten Personen, die mir wie Kellner erscheinen. Es sind etliche und ihre Handlung ist hektisch. Sie rennen rein und raus, springen über die Balustraden und Geländer, lassen Eimer ins Wasser und ziehen diesen wieder hinauf, um das Deck zu säubern.
Das Schiff platziert sich genau vor unseren Augen, so dass wir im Scherz sagen, dass es uns in dieser Weise noch die Aussicht versperren wird.

 

(Newa)

 

Rechts von ihm liegen zwei Anlegestellen, und nachdem das Schiff sich mehrfach verschieden platziert hat, kommt in mir der Verdacht auf, dass der Kapitän das Anlegen nicht allzu gut beherrscht. Das Schiff kommt und kommt nicht voran, sondern schwankt leicht hin und her, eine halbe Stunde vergeht, ohne dass etwas passiert oder auch nur eine der Anlegestellen erreicht ist.

Als ich mich kurz umdrehe, sehe ich, dass sich hinter uns, die wir am Geländer stehen, mehrere Reihen an Menschen gebildet haben. Ich bin überrascht, wie viele es auf einmal sind, wie schnell sie sich ohne mein Bemerken versammelt haben.
„Nicht die erste, aber wenigstens die zweite Reihe!“ sagen zwei kichernde Mädchen hinter mir, die sich abwechselnd fotografieren und laut aufquietschen, als sie die digitalen Bilder betrachten. Zwei weitere, deren Alter ich überhaupt nicht einschätzen kann, da sie sehr jung ausseh
en, aber miteinander unbeschreiblich erwachsen reden, fragen, ob es möglich wäre, neben mir am Geländer zu stehen. Ich sage: „Selbstverstä

ndlich!“, wir rücken alle leicht zusammen, irgendeiner knurrt nicht weit von meinem Ohr entfernt, bis beide Mädchen sich in die winzige, kurz gebildete Lücke am Geländer quetschen. So stehen wir, etwas gedrängter. Alle reden wild durcheinander.
Ich muss nun mein Bein durch das Geländer schieben, um es etwas zu entlasten, um mir gleichzeitig in dieser Form Halt zu verschaffen. Die Menge schwankt leicht hin und her, und kaum habe ich mich versehen, bin ich bereits einige Zentimeter nach links geschoben.
Danach entlaste ich auch das andere Bein, denn irgendwie spüre ich meinen Unterleib kaum noch. Ich bitte inständig darum, dass sich diese unbequeme Warterei lohnen wird, blicke auf die Uhr und muss mit Schrecken feststellen, dass der Zeiger kaum vorankommt.
An das große Schiff vor uns legt gerade ein kleineres an, zwei Uniformierte steigen von einem Schiff ins andere. Irgendetwas Eigenartiges geht dort unten vor, ich kann nicht sagen, dass es wirklich langweilig ist, hier zu stehen. Man schwankt in der Mengenwoge und überlässt sich seinen Gedanken

. Nach einigen Minuten fährt ein erstes, größeres Boot vor.
Dort stehen steif mehrere Sicherheitsbeamte, dazwischen ein Mann im
Anzug. Ich fixiere meinen Blick, um so viel wie möglich zu erkennen. Hier scheint tatsächlich etwas im Gange zu sein, das doch größere Ausmaße annimmt. Das Schiff ist nahe, jedoch zu weit entfernt, um alles exakt zu erkennen, doch bald merke ich, dass es gar nicht vorhat, an die Anlegestellen zu finden. Es soll also direkt in unserer Sicht, so nahe wie möglich an der Route des Segelschiffes platziert werden, das Schwanken ist lediglich der Wellengang.

 


Schon ahne ich, dass dort wohl die russische Elite vorfährt, der wahre Reichtum, die Dekadenz. Der Mann im Anzug wird vorsichtig herübergeleitet, am Arm gepackt und verschwindet sofort im Inneren des Schiffes. Das Boot mit den Sicherheitsleuten legt wieder ab und fährt davon.
Gleich darauf fährt ein weiteres, gleicher Sorte, heran, der Ablauf wiederholt sich wie ein zurückgespulter Film, diesmal mit einem Mann und zwei ihn begleitenden Frauen, die eilig in das Innere des Schiffes geleitet werden. So wird dieses Schiff nun mehrfach mit Leuten bestückt und bevölkert, insgesamt sind es wohl an die fünfzehn Mann (Frau), die wohlgenährt und gut gekleidet, von Sicherheitspersonal mit grimmiger Haltung umringt, das Schiff betreten und sich gegenseitig begrüßen. Die Kellnerschaft verneigt sich leicht, Hände werden geschüttelt.
Das erscheint mir dann doch etwas übertrieben. Man erkennt nun zwei dieser Männer im Anzug, die ein Schnellboot besteigen und mit rasender Geschwindigkeit einige Ru
nden auf dem Wasser drehen, apr

ubt abbremsen, wenden und wieder Gas geben. Im Hintergrund wird der Fluss für alle anderen Wasserfahrzeuge gesperrt, so dass nur noch Polizeiboote, das gewaltige Schiff der Elite und das Schnellboot zu sehen sind, das seine Show vollführt, nicht für uns, die Zuschauer, sondern, weil da jemand sein neues Rennboot ausprobieren will. Einen ganzen Fluss hat man vielleicht auch nicht jeden Tag so einfach zu seiner freien Verfügung.

Etwas Wind kommt auf. Die Fahnen schlagen lärmend um den Mast. Ich ziehe lieber meine Jacke an, obwohl es nicht kalt ist. Jemand hinter mir tuschelt, dass es heute noch regnen soll, beschwichtigt sofort: "Es soll regnen, aber nur kurz." Ich hoffe inständig, dass die Wolken sich wieder verziehen. Immernoch ist es sehr hell. Man kann sich nicht vorstellen, dass es bereits kurz vor 23 Uhr ist.

 
Nicht weit von der Brücke entfernt entdecke ich auf einmal ein aus dem Nichts getauchtes Boot, das sich trotz der Sperre zwischen Polizeibooten hindurchgeschummelt hat. Sofort ertönt ein ohrenbetäubendes Signal, mehrere Polizeiboote umkreisen es, diskutieren und lassen das Boot nich
t zurückfa

hren oder leiten es hinaus, sondern nehmen die Menschen, die sich auf dem Boot befinden, gnadenlos fest. Wir sehen, wie sie mit auf den Rücken gebundenen Armen von einem Boot ins andere steigen müssen, und man fragt sich, was sie sich dabei gedacht haben, ob sie leicht dümmlich wären oder es vielleicht doch einfach nur ein Zufall war.
Mir wird dabei leicht schummrig im Magen. Diese plötzliche Aktion verstimmt mich nicht, sondern weckt lediglich einen leichten Schauer. Da stehe ich also direkt dabei, bin direkt am Geschehen, was man sonst nur in den Medien am Bildschirm verfolgt.
Seitlich von mir erklingen plötzlich laut gebrüllte Rufe. Ich blicke in die Richtung und sehe, wie die Menschen Schritt für Schritt zurückdrängen. In der dadurch langsam entstehenden Öffnung schreiten in ernster Haltung Uniformierte voran, jene OMON-Truppe von Putin, den Knüppel bereit, die andere Hand an der Waffe. Sie tragen Schutzhelme, wie man sie ab und an bei Demonstrationen gegen Steinschläge erlebt, und wirken durch ihren stampfenden Schritt, dem riesigen Helm und grimmigen Blick wie Marsmenschen. Ihre Kleidung besteht aus einer Tarnuniform in Grau- und Blautönen und bei so manchem dies
er kleinen und großen Wichte rutscht der Helm ungünstig ins Gesicht, der dann mit der Hand wieder hochgeschoben wird. Sie verziehen keine Miene, brüllen nur alle paar Meter, dass alle einige Schritte zurücktreten sollen.

Vorsichtig bewegen sich die Menschen nach hinten. Sie laufen hindurch, Mann für Mann, drohen mit ihrer Bewaffnung. Ich bin zum Sprung bereit, um wieder an das Geländer mit guter Aussicht zurückzukehren, ich finde, ich habe einfach zu lange gewartet, um mir meinen guten Platz durch derlei unnötige Aufregung und Forderung nehmen zu lassen, doch nach dem Schlägertrupp folgt auch schon die normale Miliz.

„Zurück!“ schreien sie. „Weiter zurück.“
Wir fragen, wohin wir noch sollen. Bis zum Geländer ist nun mindestens ein Meter Platz.
„Zurück, bis hinter die Bordsteinkante!“ ruft einer der Polizisten. Sie stellen sich ungefähr fünf Meter voneinander auf und werfen uns, die wir zurückweichen, hasserfüllte Blicke zu. Und doch herrscht in ihrer Mimik eine überdimensionale und in allen Falten liegende Gewohnheit.
Wenn ich solche Gesichter sehe, dann ahne ich die gesamte Ausbildung im Drill. Noch nie sah ich so viel Hass, so viel Grausamkeit, so viel Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen und, vor allen Dingen, gegenüber den Menschen, wie in diesem einen Gesicht des Miliztypen, der sich genau vor uns aufbaut. Ein leicht korpulenter, jedoch noch so junger Mensch, der gnadenlos mit dem Stock droht, unter dessen gut gebürsteter Mütze wohl ein scharf gezogener Scheitel liegen musste.
Die so benannte Bordsteinkante ist eine hohe, abgerun
dete Stein

erhöhung, etwa siebzig Zentimeter hoch. Wir weichen immernoch zurück, durch die Masse der Menschen geht alles nur langsam und taumelnd. Man hat auch keinerlei Möglichkeit, sich zu widersetzen oder eine eigene Richtung zu bestimmen.
Schon fällt ein Kind mit dem Bein in ein tiefes Loch und beginnt zu weinen. Mitten zwischen den Steinerhöhungen sieht man es mit dem gesamten Körper nach unten sinken, bis hilfreiche Arme es packen und wieder hinaufziehen. Das Bein blutet, und der Junge wird über die Köpfe der Menschen hinweg davongetragen. Ein Eisenpfeiler fehlte, so dass in der Straße tatsächlich ein Loch klaffte.
Auch ich steige nun rückwärts über den hohen Bordstein, versuche dabei, den Halt nicht zu verlieren, einen Bordstein, den ich auch nur so nenne, weil er als hoher Stein eigentlich nur den Fußgängerweg von der Straße trennt. Hier fahren normalerweise Autos, doch da alles abgesperrt ist, stehen nun wir auf der Straße, während der Fußgängerweg, der etwas mehr als zwei Meter lang ist, völlig leer ist, lediglich durch die im Abstand zueinander stehenden Polizisten und der Presseleute, die immernoch am Geländer in jener Ausbuchtung der Brücke ihre Gerätschaft prüfen, belagert wird. Flüche ertönen, die aber nur bedacht ausgestoßen werden.

 

(Zwischen (links) dem Geländer der Brücke und (rechts) den Menschen erkennt man die in ihrem Abstand zueinander stehenden Polizisten in ihrer steifen Haltung.)

 

Für jeden Meter Menschenhaufen ist ein Polizist zuständig, der die Aufsicht hat, dass alles Ruhe und Ordnung bewahrt. Immernoch überrascht mich mal wieder die Genügsamkeit der Menschen, die zwar stöhnen und sich leise beschweren, die aber ihre Fassung trotz ihrer leichten Trunkenheit nicht verlieren. Wendet sich jemand an einen der Polizisten, dann wird höflich erst einmal um Entschuldigung gebeten und gefragt, ob er bitte sagen könne, wann es denn nun endlich losgeht. Die Milizantwort

lautet auf jede Frage im gleichen Standartsatz. „Ich kann es Ihnen nicht sagen!“ Dieser Satz staubt trocken aus zusammengekniffenen Lippen.
Nur ab und an wechselt so einer die Worte und schreit: „Treten Sie wieder zurück! Ich sage, zurücktreten.“ und schwingt dabei seinen Stock, im Sprung bereit, sich auf die bösartigen Bordsteinüberschreiter zu stürzen, die vom Druck der Menge darübergestolpert sind.
Ich beobachte diesen Miliz-Typen, der auch noch direkt vor mir steht, mir die Sicht nimmt, bin erschüttert über so ein Verhalten, dieses "über Leichen hinweg". Sicherheit, na gut, vielleicht wird all das gemacht, damit niemand gegen das Geländer gedrückt wird und ins Wasser fällt. Aber die Menschen scheinen alle selbst überrascht, so dass diese Behandlung doch eher mit dem unten liegenden Schiff zu tun haben muss. Auch sehe ich inmitten all dieser Köpfe und Körper kein einziges rotes Kreuz, dafür etliche Uniformen.

Der Polizist steht steif und mit bewegungslosem, hasserfülltem Gesicht. Der Knüppel ist mit weiß geknöchelter Hand gepackt. Seine Augen schweifen mechanisch über die Köpfe.
Sobald ein Mensch oder, was häufiger geschieht, ein Kind über die Steinerhöhung klettert, wird es böse fixiert und zurückgetrieben. Dabei ist völlig egal, ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt. Sobald dieser Bordstein überstiegen wird, weil die Menge von hinten drückt, fixiert der Polizist die Bewegung und zählt wohl die Sekunden, bevor er handeln wird.

Hinter ihm schreiten seine Vorgesetzten vorüber. Meine Knie werden unsanft gegen den Stein gestoßen, ich drücke mit dem Hintern die weiche Menschenmasse wieder zurück, kenne da keine Skrupel. Ich bin völlig fassungslos und fühle die Woge an Bäuchen in meinem Rücken. Eine unerträgliche Hitze breitet sich durch die Massen aus. Jetzt, so dermaßen zusammengefercht, während vor uns zwei Meter Platz bis zum Geländer ist, stehen wir eng aneinander und rauben uns fast gegenseitig den Atem.

Mittlerweile ist es kurz vor Mitternacht. Das Segelschiff lässt auf sich warten. Erste Versuche werden gestartet, Lichter geschaltet. Mein Interesse bleibt bei diesem Roboter, diesem steif dastehenden Polizisten, bei dem ich mir versuche auszumalen, wie er aussehen könnte, wenn er lächelt. Die Vorstellung ist unmöglich. Er starrt in die Menge und reagiert lediglich, wenn jemand wagt, den hohen Stein zu übertreten. Ansonsten steht er wie in Stein gehauen.
Allmählich kann ich mich kaum noch aufrechthalten. Neben mir stehen zwei Betrunkene und machen sich über die Situation lustig. Sie bieten reihum Schnaps aus kleiner Flasche an. Dankend lehne ich ab, sehe aber einige Menschen einen Schluck daraus nehmen. Dahinter steht ein anderes Ehepaar, wobei der Mann seine Frau anjammert:
„Was machen wir hier? Was soll das ganze Theater? Waru

m gehen wir nicht einfach?“
Sie schüttelt den Kopf und sieht ihn streng, dann bittend an. Ihr Gesicht wechselt von Freude zu Leid. Sie will dieses Segelschiff unbedingt erleben, wie die meisten hier in ihrer Geduld. Er zuckt mit den Schultern und blickt um sich, während sein Atem mir ins Gesicht schlägt, so dass ich den Kopf abwenden muss.
Ich teile seine Ansicht, wäre gerne geflohen, doch sobald ich hinter mich blicke, treffe ich auf die unerschütterliche Wand an Körpern, die undurchdringbar ist. Sie steht, als wäre sie in diese Brückenstraße gepresst und könnte ihre Form erst lösen, wenn alles vorbei ist. Mensch an Mensch, Stimmen und Gespräche, darüber ein hellblauer Himmel, der sich ganz allmählich leicht verändert. Ich stöhne und seufze mit all den anderen, jeder Knochen im Leib singt sein eigenes, tragisches Lied.

Als ich mich wieder zurückdrehe, wird es kaum besser, dort treffe ich auf das Töten wollende Gesicht der Miliz. Schließlich kann ich nicht mehr und setze mich einfach auf die oberhalb leicht abgerundete Kante des Bordsteins. Einige Menschen handhaben es genauso. Die Zeit verri

nnt und nichts geschieht. Die Entlastung der Beine tut gut.
Als ich sitze, dampft mir die Hitze der stehenden Menge ins Gesicht. Obwohl die Luft etwas abgekühlt ist, friert man nicht in diesem Sumpf an Menschen. Die Russen haben auch ein Sprichwort, das lautet: Das Herz - bei dem einen ein Meer, bei dem anderen - ein Sumpf. Und diese geduldigen Menschen, die hier auf das immer weiter weg verschobene Ereignis warten, wachsen mir mit dem eigenen Schmerz im Leib ans Herz.
Ich frage mich, was so lange dauert, ob das Schiff einen Schaden hat oder die Feuerwerkskörper nicht richtig funktionieren. Irgendetwas Unvorhergesehenes musste diesen ganzen Ablauf bedeutungsvoll verzögern. Gebannt starre ich auf die Newa, auf die weit entfernt liegenden anderen Brücken, suche den Horizont ab, ob ich darauf vielleicht einen roten Funken entdecke.

Kinder toben jetzt nicht mehr herum, sondern stehen müde an die Beine ihrer Eltern gelehnt. Mittlerweile ist es fast ein Uhr. An der Peter und Paul-Festung wird Licht geschaltet, wechselt aus dem Blau in ein Gelb in ein Rot. Auf den beiden roten Säulen werden Flammen gezündet. Die Helligkeit wechselt in eine leichte Dämmerung. Man ist dieses Wechsels aber schnell wieder überdrüssig, da die Zeit scheinbar er

neut irgendwie stehengeblieben ist, nichts weiter passiert.
Nun versuche ich wieder die Ereignisse auf dem Schiff auszumachen und stelle mit Erstaunen fest, dass dort genüsslich gespeist wird. Man kann ungenau ins Innere sehen, sieht Silhouetten und Schatten. Ich wage es kaum zu denken, aber eine Unruhe jagt mir durch den Körper, auf einmal stellt sich mir ein Gedanke ganz klar vor Augen: die Verzögerung der Segelschiffsfahrt musste irgendwie mit diesen speisenden Leuten zu tun haben.
Und als hätten meine Gedanken den Ablauf neu gestaltet, kommt auf dem letzten Drücker ein weiteres Boot mit Sicherheitspersonal heran, wohl ein Verspäteter, der wiederum, wie alle anderen vor ihm, auf das große Schiff gehievt wird

 

(Hier erkennt man das Schiff River Palast und links eines der Securityboote, wobei die Sicherheitsleute gerade jemanden hinüberschleusen.)

 

Und ich denke mir: Warten wir alle etwa auf ihn? Wartet eine ganze Stadt tatsächlich darauf, dass die Herrschaften dort unten gespeist haben und satt genug sind, um dem Spektakel in aller Ruhe ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen?
Wenn das tatsächlich der Fall ist, so überlege ich weiter, dann handelt es sich bei den Menschen dort unten nicht um bloß reiche Leute mit genügend Kapital, um auf einem Schiff nahe genug die Aussicht zu genießen. Dann musste es sich um weitaus höhere Tiere und einflussreichere Menschen handeln, und welche waren das wohl in Russland, als die Politiker selbst. Wer auch anderes konnte das Vorgehen einer ganzen Stadt abbremsen?
In St. Petersburg tagte, wie ich am Vortag durch einen Taxifahrer erfahren hatte, gerade ein ökonomisches Forum, wo mehrere Abgeordnete aus ganz Russland zusammentrafen. Waren sie es, die den ganzen Ablauf verschoben? Doch, was war ein Forum? Fünfzehn Mann waren dafür einfach eine zu kleine Anzahl an Menschen.
Auch die Miliz vor der Menge kann nichts Genaueres wissen, sich die enorme Verschleppung an Zeit nicht erklären, dessen bin ich mir jetzt fast sicher, darum können sie auch keine konkrete Antwort geben. Sie haben ihre Befehle, und diese lauten: Stehen und für Ruhe sorgen.

 
Gerade tritt der Polizist vor mir von einem Bein auf das andere, gibt damit irgendwie ein winziges Detail seiner selbst preis. Vielleicht hat auch er nicht mit dieser langen Nacht, mit dieser so starken Verzögerung der Show gerechnet.


Ich werfe einen genervten Blick auf die Straße vor der Eremitage. Vom Vorplatz des Winterpalastes sieht man Scharen an Schülern und Studenten laufen. Zehntausende an Köpfen mache ich aus, die wie eine gewaltige Masse aus den Nebenstraßen, Plätzen und Parkanlagen quellen und sich an der unteren Brüstung zur Newa hin sammeln. Dort stehen nun auch sie und warten auf das Segelschiff, während sie eigentlich feiern könnten. Im Hintergrund findet immernoch ein Konzert statt, von dem leise Töne zu uns herüber dringen, doch zu leise, um uns alle tatsächlich zu unterhalten. Die Musik stammt von dem Popstar Dima Bilan, dem Gewinner des Eurovision Song Contests 2008. Auch gibt es dazu einen Auftritt des Cirque Du Soleil. All das verpassen wir, hätten es auch verpasst, wenn wir nicht auf der Brücke stehen würden. Denn der Zutritt zum Vorplatz ist, wie schon berichtet, für normal Sterbliche gesperrt.
 


Endlich nehme ich eine neue Bewegung auf dem Schiff wahr. Die Herrschaften wandern soeben nach oben an Deck. Ein kleines Polizeischiff fährt heran, man sieht, wie sich mehrere Gestalten einander zubeugen, etwas tuscheln, und das Schiff wieder davon düst. Im Hintergrund gehen weitere Lichter an der gegenüberliegenden Brücke an, eine rote Leuchtkugel wird in den Himmel geschossen. Ein bisschen Brot gegen die Ungeduld, die kurz Hoffnung weckt.
Ich erhebe mich wieder, ein Schmerz zischt mir durch den Rücken. Ich werde sofort nach vorne gedrückt, dass meine Knie erneut an den harten Stein prallen. Der betrunkene Mann mit seiner Frau spricht nun in heulendem und leicht lallendem Ton zu ihr, während alle anderen leise murren, jedoch standhaft weiter warten. Irgendjemand hinter mir erklärt, dass letztes Jahr alles zeitgenau klappte. Man wundert sich allgemein über diese absurde Verzögerung.
Ich stelle mir all die Familien vor, die gleich nach der Arbeit mit ihren Kindern zur Newa geströmt sind und nun, da es bereits fast zwei Uhr morgens ist, die letzte Metro um Mitternacht verpasst haben. Wie würden sie nach Hause kommen, wenn alle Straßen abgesperrt, nirgendwo ein Auto fährt? Ich will mir gar nicht ausmalen, wie ich selbst nach Hause finden soll. Die Erschöpfung schleicht sich durch jeden Knochen, ich stoße auf Deutsch einen Fluch aus und schimpfe ein bisschen vor mich hin.
Der betrunkene Mann blickt mich jetzt an, blickt sehr lange, bis er vorsichtig fragt, woher ich käme. Ich bedeute ihm, dass ich aus Deutschland sei, und er schlägt sich mehrmals mit lautem Klatschen an die Stirn, wobei ich auf alles gefasst bin.
„Was zum Teufel machst du denn bloß hier?" redet er drauf los. "Du bist ja nicht einmal eine Einheimische. Warum tust du dir diesen ganzen Mist denn nur an! Geh’ und genieß, sei froh, dass du nicht solch dämlichen Traditionen beiwohnen musst.“
Ich lache und nicke und zucke dann mit den Schultern. Nun habe ich schon fast fünf Stunden hinter mich gebracht, so machen die hoffentlich wenigen Minuten, bis das Schiff endlich losfährt, auch nichts mehr aus.

 

Meine Mundwinkel sind einem beständigen Sog nach unten unterzogen, und trotzdem bin ich froh, dass ich hier, inmitten des einfachen Volkes stehe und all das leibhaftig miterlebe, nicht irgendwo auf einer Yacht die Daumen drehe, wo mich der Funken der Wirklichkeit nicht erreicht. Hier spürt man die Anstrengung, das Sein des russischen Volkes. Kein Film, kein anderer Ort könnte mir diese so lebendige Empfindung vermitteln.

Der Mann redet nun vor sich hin, dass er schon in Frankreich war, in Italien, in Spanien, aber noch nie in Deutschland. Dann stampft er auf, packt seine Frau am Arm und zerrt sie mit sich, ohne tatsächlich voranzukommen. Die Masse ist wie eine Mauer. Nicht weit von ihrer vorherigen Position müssen sie aufgeben und stehenbleiben.

Hinter mir ertönt ein Schrei. Schon herrscht Unruhe und Bewegung. Ein Mädchen ist umgekippt und wird von Hand zu Hand nach vorne getragen. Ich lasse sie vor mir auf dem Bordstein sitzen, streiche ihr über das weiße Gesicht. Dicke Tropfen Schweiß stehen ihr auf der Stirn. Ich krame hastig in meinem Rucksack, um ihr etwas zu trinken zu geben. Dort finde ich nur eine Flasche mit einem lauwarmen Schluck Sprite. Eine andere Frau ist zum Glück schneller und reicht Wasser. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schreie dem Polizisten zu, dass hier jemand umgefallen wäre, er einen Arzt rufen soll. Er blickt durch Schlitzaugen kurz zu uns und sofort wieder weg, starrt weiter mit seiner so geübt bewegungslosen Mimik vor sich hin.
„Scheiß Roboter, tu etwas!“ schreie ich auf Deutsch. Er fixiert mich böse. Ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat, aber auf einmal zuckt etwas minimalistisch um seine Lippen. Schon setzt er sich in Bewegung, läuft einige Meter davon, ich atme auf.

Als er wenige Augenblicke später wieder zurückkommt, ist er alleine. Das Mädchen sackt in sich zusammen, ihr Freund versucht sie mit einigen Ohrfeigen zu beleben. Der Polizist winkt ihn heran und bedeutet ihm, dass sie schnell und zügig über den leeren Gehweg, auf dem nur die Miliz steht, nach vorne gehen dürfen. Ich traue meinen Ohren nicht.
„Los. Los!“ bedeutet der Polizist, während das Mädchen kaum auf die Beine kommt. Ihr Freund stützt sie, hebt sie dann auf die Arme. Mühsamen Schrittes schreitet er voran und verschwindet auch schon aus meinem Blickfeld, während ich den Polizisten mit Blicken durchbohre.
Dieser Typ hat lediglich Befehl darüber eingeholt, was nun zu tun sei. Unfähig zu handeln oder zu helfen, eigens zu reagieren, was doch eigentlich die Aufgabe der Polizei ist. Jene Aufgabe, die überall ein Trug ist: die helfende Hand der Sicherheit. So fährt mir in den Sinn, dass keiner dieser Spinner sein Leben riskieren würde, geschweige denn tatsächlich nützlich ist. Sie stehen und repräsentieren die Gewaltbereitschaft, die Macht und Überwachung.

 

Gerade in Russland, in dieser riesigen Stadt mit ihrer absurd hohen Präsenz an Miliz, dient keiner dieser Uniformierten der Menschheit, sondern lediglich dem Staat. Sie halten die Menge in Schach, die noch nicht einmal etwas im Schilde führt. Sie stehen in ihrer aufgeplusterten, übersauberen Uniform und behandeln die Menschen wie den letzten Dreck. Ich möchte ihm, wie er sich da wieder aufgebaut und in seine Reglosigkeit verfallen ist, am liebsten direkt gegen das Schienenbein treten.

Nachdem das Mädchen von ihrem Freund hinausgetragen wurde, hoffentlich schnell genug, damit alles wieder zur Ruhe kommt und beide nicht den gezogenen Knüppel dieser Roboter zu spüren bekommen, werfe ich dem Polizisten weiterhin böse Blicke zu, ohne mich beherrschen zu können. Auf einmal wendet er seinen Kopf, sieht mich direkt an, fixiert mich mit toten Augen. Eine Weile hält er Blickkontakt, starrt ohne zu Blinzeln fest zurück. Mit derartigem Hass soll man sich wirklich nicht anlegen. Hinter seinen Augen liegt die ganze grausame Welt verborgen, die Solschenizyn beschrieben hat.
Ich blinzle lieber zuerst und wage dann nicht mehr, ihn noch einmal in Augenschein zu nehmen. Ein eiskalter Schauer legt sich einem da über den Körper. Wie schnell kann man in solch einem Land einfach so verschwinden oder einen Unfall haben. Wie gnadenlos wenig Menschlichkeit steckt in so einer längst verbrauchten Seele, die nur durch Uniform und Befehl zusammenhält.

Endlich wird eine weitere, diesmal gelbe Leuchtkugel gezündet. Eine Ampel, juble ich innerlich. Wenn das grüne Licht gezündet wird, dann geht es los.
Auf dem Schiff erspähe ich, dass die Herrschaften am oberen Deck hin und her schlendern und gerade mit Champagner versorgt werden. Erneut nähert sich ein Polizeiboot, um vorsichtig anzufragen, ob es losgehen dürfe. Scheinbar nicht. Vielleicht sind noch nicht alle mit dem Essen und Austernschlürfen fertig.
Es wird zwar eine grüne Leuchtkugel gezündet, und kurz lebe ich auf, aber nichts passiert. Auch die Presse vor mir packt ihre Kameras unter Plastiktüten, ein kleiner Regenschauer setzt ein, hört aber sofort auch wieder auf.
Ich verliere die Geduld, will nur noch gehen, will diesen ganzen Auswurf hinter mich lassen. Der Zusammenbruch des Mädchens und die Tatenlosigkeit des Polizisten, dessen irrer Blick mich schockierte und vielleicht immernoch auf mir ruht, all das frisst sich durch meine Nerven.

 

Auf der Brücke geht nun auch noch das Licht aus. Ich überlege, ob die Fahrt des Segelschiffs vielleicht ins Wasser fällt, doch keiner der Menschen reagiert in diesem Sinne, auch die Presse steht und wartet, der Kameramann auf seinem Kran ist noch sichtbar. Jemand sagt, dass sie hoffentlich Aufnahmen von diesen absurden Vorgängen machen würden, doch in mir macht sich der Verdacht breit, dass gerade die Presse nur das aufnimmt, was sie aufnehmen soll, und es wird sich hinterher genau so bestätigen. Am nächsten Tag erscheint in den Medien nichts von Verspätung, nichts davon, dass eine ganze Stadt auf ein mit fünfzehn Mann besetztes Schiff gewartet hat, es wird nur berichtet, wie schön alles war, wie wundervoll das Segelschiff mit seinen rot bestückten Masten aussah, wie herrlich das Feuerwerk sich am Himmel entfaltete.

Wenn man den wahren Kapitalismus spürt, dann in diesem Land. Hier wartet ein ganzes Volk, eine ganze Stadt aus mehreren zig Tausend Menschen, bis, wie sich ebenfalls hinterher herausstellt, Medwedew
und Putin, samt ihrem Gefolge, in Ruhe gespeist, in Ruhe Kaviar gelöffelt haben und dann, nach Belieben, den geblähten Bauch gestreichelt, allmählich nach oben schlendern, sich Champagner einschenken lassen und schließlich bereit sind, damit das Schiff mit den purpurnen Segeln endlich fahren kann. Ganz im Gegensatz zu Präsident Obama, der sich dem amerikanischen Volk häufig ganz bürgerlich, als „einer von ihnen“ zeigt, so legt die russisch politische Elite Wert darauf, dem Volk klar zu machen, wer das Sagen hat. Sie sind nicht Teil des Volkes, sie sind, was sie sind. Ganz ohne Heuchelei. Das hat sich in dieser Nacht überdeutlich gezeigt.

 

Es ist fast halb drei Uhr morgens, das Polizeiboot fährt zum dritten Mal heran, bekommt wohl einen Wink und begibt sich hinter die nächste Brücke, wo das Segelschiff wartet. Zwei grüne Leuchtkugel werden noch gen Himmel geschossen, mittlerweile ist es dunkel geworden, die Peter und Paul-Festung erstrahlt in verschieden Farben, die Brücke öffnet sich.
Und endlich. Endlich. Endlos endlich. Die Show kann beginnen. Das Volk atmet auf. Atmet mit einer einzigen Lunge auf.
Und in aller Pracht steigen nun die Feuerwerke empor, im Klang lauter klassischer Musik, die die jeweiligen unterschiedlichen Geschosse zeitgenau untermalt. Das Schiff der Herrschaften versperrt zwar den meisten die Sicht, sie müssen ganz nahe dabei sein, nicht nur nahe, das Schiff fährt alleine für sie, nicht für die gewöhnlichen Menschen, doch man spürt jetzt eine große Erleichterung.
Auch ich empfinde sie, während die Menge hinter meinem Rücken Ah und Oh Rufe ausstößt oder klatscht, wenn sich die Flammen und Feuerfarben am Himmel besonders schön ausbreiten und verglühen. Noch einmal strecke ich den gesamten Körper – Halt durch! Halt durch! – und überlasse mich den zerstäubenden Farbexplosionen. Aus der Ferne rückt das Segelschiff langsam voran, so klein und doch schön. Ich denke gleichzeitig, wie herrlich auch in diesem Moment die Eremitage in ihrer gesamten Beleuchtung wirkt (Bild 4), wie sehr sie in ihrem Anblick doch Balsam für alle Strapazen ist.

Die Musik stößt Trompetenklänge und Paukenschlag aus, die Farben der Festung wechseln schnell und flackernd, das Segelschiff ist nun deutlich zu erkennen und stoppt vor den politischen Herrschaften, um dort, nicht an üblicher Stelle, nicht bis ganz an die Brücke heran und wieder zurück, seine Fahrt zu beenden. Da stehen sie dann wohl an der Reling und klopfen sich auf die Rücken, leicht angesoffen, leicht notgeil über ihre Macht und loben sich selbst. Schönes rotes Schiff. Haben wir gut gemacht. Ja, hat uns ganz gut gefallen.
Das Abschlussfeuerwerk platzt über die Köpfe, die Leute kreischen und jubeln, die roten Segel erstrahlen am Mast dieser Nacht, und das Spektakel findet bis in die letzte Erschöpfung sein ersehntes Ende.

 

 

(Rotes Feuerwerk, das sich in allen Formen und Farben abwechselte.)

 

 

 

(Das Segelschiff mit den purpurnen Segeln, das die Sommerwende ankündigt und feste Tradition in St. Petersburg ist.)

 

 

(Eremitage in ihrer nächtlichen Beleuchtung. Linker Hand sieht man im Dunklen das Schiff der Politiker und etwas vom Feuerwerk.)

 

 

 

 

12.

 


Und genauso schnell, wie die Dinge dann doch noch ihren Lauf genommen haben – oh nein, nichts ist überstanden, nichts ist vorbei -, bricht nun die Flut los. Ich bekomme kaum noch etwas mit. Weder das Segelschiff noch die Präsenz der Miliz, eine stark nach vorne treibende Bewegung setzt sich in Gang. Gleich einer riesigen Menschenwoge werde ich mitgerissen. Sie strömen zum Ausgang der Brücke, Richtung Eremitage, strömen in alle Richtungen, man kann sich diesem Strom nicht entziehen. Zwischen Körpern eingedrückt, schöpfe ich verzweifelt Atem und rudere mit den Armen. Vom linken Außenrand werde ich durch die Mitte der Massen an den rechten Rand gespült.
Als ich eine kleine Lücke entdecke, nutze ich sie und klettere über einen Zaun. Auf seinem Geländer verharre ich kurz, bevor ich auch schon wieder weiter gedrückt we
rde und in genauso viel Mensch lande. Nun sehe, rieche, höre ich die Massen. Gesichtslos und bedrohlich verwandeln sie die Straßen, machen sie lebendig und unvorhersehbar.
Alle Schüler und Studenten mischen sich nun aus ihren für si
e abgegrenzten Gebieten unter die Menge, die Menge aber darf nicht hinter die Abgrenzung. Immernoch versperrt die Miliz die Umgebung, es ist unmöglich zur Metro oder überhaupt hinaus zu gelangen. Inmitten der Leute, auf neuem Zaun, überblicke ich das Chaos, das sich in verschiedene Richtungen sammelt.
Ich frage mich ernsthaft, wie ich durch dieses Gelage durchkommen soll, wohin ich überhaupt muss, wie ich den Weg zur Metro oder in die Stadt oder zu mir selbst zurück finden soll, wenn alle mir bekannten Straßen abgesperrt sind.
So kneife ich die Augen zusammen und lasse mich mit kleinem Sprung wieder in die Menge fallen, treibe mit dieser Welle der Feierlichkeit mit, lasse mich durch sie f
ühren und lenken. Obwohl die meisten sturzbetrunken sind, sind sie zum Glück nicht aggressiv, obwohl mir ein kräftiger Schluck aus irgendeiner Flasche jetzt auch gut tun würde, um diese Stimmung und Enge leichter zu ertragen.
Es wird um uns herum schon wieder hell, unter meinen Füßen klirrt und knackt es. Ich laufe auf Glas, auf zerbrochenen Flaschen, vielleicht auf Knochen. Busse, die als Toilette umgestaltet wurden, sind überfüllt, vor ihnen ewige Schlangen an Menschen. Ich verkneife mir den D
rang, der nach so viel Zeit immer zu spüren ist, der zur beschwerlichen Belastung wird, wenn man nirgendwo hin kann.

 


Ich weiß nicht mehr, wo ich bin, versuche mich an den Gebäuden zu orientieren, die irgendwie alle gleich erscheinen. Schön, gewaltig, aber nicht besonders hilfreich. Die Wege, die ich kenne, sind abgesperrt.
Die Masse lichtet sich unmerklich. Irgendwie bin ich schon ganz an den Rand der Häuser gespült und überlege, wohin ich mich nun wenden soll. Ich sehe, wie einige der Studenten fröhlich singend, die letzten Flaschen schwingend, in eine Straße einbiegen, schätze grob, dass hin
ter der Häuserfront vielleicht eine geöffnete Straße für den Heimweg liegen könnte und folge ihnen, weil sie mir wie Leute auf dem Heimweg erscheinen, die nach einer durchzechten Nacht Sehnsucht nach ihren Betten verspüren, bis ich erkenne, dass sie in ihrer guten Stimmung lediglich um das Haus herumlaufen, was zur Folge hat, dass man im Quadrat dann wieder genau auf der Straße landet, von der man zuvor schon gekommen ist. Ich keuche und japse.
Kaum noch Kraft in den Beinen, im Gedank
en, dass ein einfaches Geradeausgehen mir viel Zeit erspart hätte, laufe ich weiter und weiter. Endlich entdecke ich einen Zaun, der in seiner zwei mal drei Meter Gesamtheit aus der Fassung gebrochen ist und schräg vom restlichen Gitter absteht. Ich schlüpfe wie etliche andere junge Menschen hindurch und befinde mich endlich wieder in einem Park, den ich kenne. Einige Mädchen taumeln mir entgegen, lachen und greifen meine Hand. Ich lasse mich eine Weile mitziehen, bis die Masse wieder dichter wird, und verliere sie aus den Augen.
So durchquere ich weiter den Park, ohne recht zu wissen, wie ich es immernoch schaffe, mich voranzuschleppen, und sehe drei Taxen, die auf der immernoch gesperrten Straße warten. Ich stoße einen Jubelschrei aus, eile hin und erkundige mich, ob sie fahren würden. Die Antwor
t ist positiv. Ich atme auf und frage, was es kosten würde. Die Antwort lässt mir das Blut gefrieren.
Eine normale Fahrt aus dieser Gegend zum Haus meiner Großmutter kostet normalerweise an die 300 Rubel. Der Preis, den mir der grinsende Taxifahrer nennt, beläuft sich auf 5000 Rubel. Ich schlucke. Selbst wenn ich wollte, hätte ich nicht so viel Geld dabei. Ein nächstes Taxi ist auch nicht besser, wenn auch schon günstiger. 2800 Rubel. Ich winke ab und laufe weiter.

Die Metro fährt jetzt nicht mehr, ich müsste bis fünf oder sechs Uhr morgens in dieser ausschweifenden Stimmung herumirren, ohne selbst einen Tropfen Alkohol im Blut zu haben. Ich überlege, ob ich eine Bar aufsuchen soll, jedoch hat keine mehr offen, lediglich eine Sushibar in greller Beleuchtung, die dazu auch noch völlig überfüllt ist. Dann komme ich an einem vereinzelt geöffneten Kiosk vorbei und sehe eine unfassbar lange Schlange. Sie stehen für Bier an, für diese Menschen ist die Nacht noch lange nicht beendet.


Die Müdigkeit überwältigt mich, die Helligkeit schlägt mir auf das Gemüt, ich friere, obwohl es nicht kalt ist. Irgendetwas frisst sich durch mein Inneres. Meine Beine spüre ich nicht mehr. Ich schwanke voran, immer mit der Menschenmenge, die sich wieder etwas lichtet, überquere Straßen, Plätze, Zebrastreifen mit blinkenden Ampeln, laufe mit dem Strom. Die Richtung muss stimmen, denn je weiter ich mich voranschleppe, desto mehr gleichen die Körperhaltungen meiner eigenen Verfassung. Wir sind hier also auf dem Weg der Verdammten, der Schlapp-Macher, der Heimkehrer. Hinter uns wird weiter gefeiert und gegrölt, gesungen und getanzt. Selbst mit dreiunddreißig Jahren fühle ich mich auf einmal uralt, zu alt, um so eine Nacht zu überstehen.

Vor der noch geschlossenen Metro dann ein ähnliches Schauspiel. Mit der Idee im Kopf, dort irgendwo zu warten, treffe ich auf die nächste Absperrung. Man muss sich bewusst machen, dass es der einzige Weg zur Metro ist, es gibt keine Querstraße oder einen anderen Weg dorthin. Die Leute stehen und diskutieren mit der Miliz, die ihre Standartantwort verkündet: „Wir haben keine Ahnung! Gehen Sie weiter!“
Weiter ist gut, denke ich. Es gibt kein Weiter. Es gibt nur Stillstand oder Rückkehr.
Auf der gesperrten Straße laufen einige Schüler und heben ihre Flaschen. Für diese sporadischen Feierfreunde bleibt die Straße für den Rest der Stadt, Familien, Kinder, Nichtschüler, weiterhin gesperrt. Sie haben am Vortag alle eine Karte gekauft, die es ihnen ermöglicht, das abgesperrte Gebiet zu betreten und für sich zu nutzen, bis die letzten der Feier- und Feuerfreudigen müde werden. Solange wird nichts geöffnet. Und sollte es auch nur ein einziger, torkelnder Mensch, der letzte fleischliche Rest einer Nacht sein, der nicht aufgeben will.

Ich bahne mir einen Weg durch die nun an dieser Stelle neu gestaute Menschenmenge, weiche in eine Nebenstraße aus, versuche mir die Augen mit den Fingern offen zu halten, und sehe erneut ein Taxi, das hinter der letzten Häuserecke einbiegt und auf mich zukommt. Ich renne mit aller Kraft auf das Autofenster zu, wie auf ein Licht am Ende des Tunnels, beuge mich hinein und frage mit ersterbender Stimme, ob der Fahrer in die Budapeschskaja fährt und was es kosten würde. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber auf einmal erwachte ein Funken Menschlichkeit in ihm. Im Gegensatz zu den anderen, die die Gunst der Stunde erbarmungslos ausnutzten, ruft er nach einigem Überlegen „1000 Rubel!“.
Ich glaube, so schnell bin ich noch nie in ein Auto gestiegen. In den Sitz zurückgelehnt spüre ich dann die ganze Müdigkeit mit voller Wucht über meinen Körper einbrechen, bis sich ein Rauschen in meinem Kopf festsetzt. Alles verlischt dahinter. Die Häuser und Lampen, Türen und Menschen schwimmen wie Irrlichter an mir vorüber. Ich zähle die Minuten, die das Bett näher rückt. Die Vögel beginnen überlaut zu zwitschern.
Ich starre vor mich hin, ohne etwas zu sehen, erkenne nur den Hinterkopf des Taxifahrers, dem ich tiefe Dankbarkeit entgegenbringe. Er fährt mich sicher heimwärts, winkt zum Abschied, während ich die letzten Stufen im Treppenhaus hinaufächze, dabei abwechselnd ein Bein packend, um es von Stufe zu Stufe hochzuheben. Verzögert öffnet sich vor mir die stille Wohnung, das Zimmer, in dem ich schlafe, die Weichheit der Kissen.

Weiße Nacht, du mit deinen roten Segeln und dem flammenden Himmel, den vielen Gesichtern und nicht befahrenen, glasknirschenden Straßen. Dich werde ich wohl, ob ich will oder nicht, für immer fest verankert in meinem Gedächtnis behalten.

 

 

 

 

Teil 6

 

 

13.

Ich komme gerade von der Blutskirche. An den Häuserfronten entlang, mitten auf der Straße, sind Gemälde aufgehängt, die ich erstaunt nacheinander betrachte. Ein guter Platz, um Bilder zu hängen, mitten im Getümmel. Später finde ich heraus, dass es sich um Kopien der Bilder handelt, die im russischen Museum hängen, vor dem der stehende Puschkin in erhabener Pose seinen Arm ausstreckt und damit etlichen Tauben Platz bietet.

Beim Träumen von der hohen Gabe
Des, der einst Russlands Schicksal war,
Steh ich am Twerer Boulevard,
Ich steh und stell mir manche Frage.

Als Blonder, und noch als Ergrauter,
Und legendär wie Nebel wehn,

Warst, Alexander, du ein Gauner,
Wie heute ich ein Hooligan.


Doch diese liebenswerten Possen

Verdunkelten dein Abbild nicht,
In Bronze, die der Ruhm gegossen,
Senkst du dein stolzes Angesicht.


Ich steh hier, wie vorm Abendmahle,
Und sage dir als Antwort gern:
Wollt sofort tot zu Boden fallen,
Würd’ mich ein solches Schicksal ehr’n.

Doch, ausgeliefert dem Gemeinen,
Tönt, hoff ich, lang noch mein Gesang …
Damit mein Steppenlied wie deines

Dereinst in Bronze klingen kann.

(Sergej Jessenin – „Mein Puschkin“, übersetzt von E. Boerner)

 

Von der anderen Straßenseite hörte ich jeden Tag eine melancholische Stimme volkstümlich singen. Bald darauf erblicke ich ein kleines Mädchen an einem Stand mit Cds sitzen, leicht nach vorne gebeugt und ohne große Reaktion. Sie hockt bescheiden zwischen all diesen Tonträgern, hält die Hände gefaltet. Nur wenn jemand an sie herantritt, dann beginnt sie zu verhandeln, verlangt so und so viel Rubel und schnippt mit den Fingern.

Die Stimme des Sängers, der zu hören ist, klingt wehmütig und entbehrt nicht der Tragik und damit der Schönheit, drückt sich in solchen Liedern aus, die die Russen lieben, die sie in ihren Abendstunden singen, durch deren Melodie sie sich nach besseren Zeiten sehnen. Ich kann mir vorstellen, dass das Mädchen die Tochter des Sängers ist, der sie jeden Tag losschickt, um seine Aufnahmen unter die Leute zu bringen.

Als ich jetzt laufe, sehe ich zwischen den Cd-Hüllen zum ersten Mal jemand anderen sitzen, und als ich näher trete, stimmt das Gesicht des Mannes mit dem auf dem Cover der Cd überein. Er ist leicht angetrunken und kippt vornüber, seine Frisur erinnert an die eines Pagen vergangener Zeiten, der jedoch nicht nur bedient, sondern soeben aus den Gemächern des Übersatten zurückkehrt. Kreuz und quer liegen die Haare, durch die glühend rot die Kopfhaut funkelt. Auch seine Nase wirkt, als wäre sie wie Popcorn aufgepufft.

Das Mädchen ist nicht zu sehen, aus dem Cd-Player tönt seine bleierne Stimme, durch die er sich leicht hin und her im Takt wiegt. Ein eigenartiges Leben, denke ich mir. Vielleicht schwierig, doch nicht schwieriger als so viele andere Leben. Verrauchte Kneipen, Straßengesang. Das kleine Mädchen ist darin fester Bestandteil und mit ihren sechs Jahren schnell erwachsen geworden.

 

Im russischen Museum hängen Bilder, die so riesig sind, dass die abgebildeten Figuren fast dreifach so hoch sind, wie man selbst. 

Eines der Bilder ist von kleineren Bildern umringt, welche die Studien für das Bild darstellen. Jene Studien jedoch könnten durchaus für sich stehen. 

 

Überhaupt bin ich von den russischen Realisten stark beeindruckt. Eine Kunst, dass manchmal ein Bild wie eine übergroße Fotografie wirkt, z. B. eine Schneelandschaft von Schischkin:

(Quelle: kunst-für-alle)

 

... oder eine dieser allmächtigen Wellen von Aiwasowskij. Dessen Wasser ist so klar, dass man glaubt, meterweit auf Grund zu blicken. Opal- und schimmernde Blautöne, manchmal gläsern oder verschwommen, mit der so lebendig wirkenden Gischt des Meeres.

(Eines der riesigen Bilder von Aiwasowskij, „Schiffbruch“)

 

Ich habe noch nirgendwo so ein Wasser gesehen.

 

Man begegnet dort der Skulptur von Gogol und stößt mehrere Räume weiter auf ein Portrait von Tolstoi als barfüßigen Wanderprediger, gemalt von Repin, der durch seine Wolgatreidler  bekannt wurde, oder auch auf die Ikonen von Andrej Rubljow, den Tarkowskij im Film verewigt hat und der in Russland bis heute sehr berühmt ist. Repin und Aiwasowskij haben auch ein gemeinsames Bild gemalt. „Puschkins Abschied vom Meer“.

  (Statue von Gogol)

       

        (Repin: Portrait von Tolstoi)                                   

 

Tolstoi erzählte Alexander Goldenweiser zu seinem Portrait:

 „So weit, dass ich barfuss herumging, kam es natürlich nicht. Repin aber hat mich tatsächlich im décolleté dargestellt: ich bin barfuss, im Hemd. Ich bin noch froh, dass er mir wenigstens die Unaussprechlichen nicht ausgezogen hat! Und dabei hat er mich nicht einmal gefragt, ob mir das lieb sein werde! Übrigens bin ich es ja schon gewohnt, dass man mit mir wie mit einem Toten umgeht.“

 (… zitiert aus Alexander Goldenweisers „Entlasse mich aus deinem Leben, Tolstois letztes Jahr“)

 

Tolstoi wurde häufiger porträtiert. Besonders ausdrucksstark finde ich das Bild von Kramskoj, das zu der Zeit entstand, als er „Krieg und Frieden“ schrieb.

 

Weiterhin gibt es eine „moderne Ebene“, wo man u. a. auf Malewitsch trifft, oder auf Valentin Serow, der Ida Rubenstein auf seine ganz eigene Weise porträtiert hat. Fast zufällig stoße ich auf den Spaziergang von Chagall.

Bei all den Kunsteindrücken, die sich mir tief eingeprägt haben, ist eine erstaunliche Gier geweckt, mich in der eigenen Malerei ganz neu zu verlieren. Der erste Entwurf wird wohl eine Metrofahrt darstellen, all diese Menschen ins Bild setzen, die mich durch ihre Müdigkeit, Erschöpfung und Traurigkeit beeindruckt und bewegt haben. Die Picassos, die russischen Realisten, von denen ich so viele nicht einmal kannte, die Riberas und Murillos, all diese Geniepinselstriche habe ich mir einverleibt und sie wiederum haben in mir Inspiration geweckt.

 

Eine der Ausstellungen im russischen Museum war die von Pyotr Konchalovsky. Die fast 120 Bilder sind von ausdrucksstarker Farbe und manchmal dicken Pinselstrichen, deren Struktur dem Abgebildeten eine regelrechte Bewegung initiiert. Die Bilder entstanden 1912 und sind doch von ausdrucksstarker Modernität.

 Immernoch auf dem Weg zurück von der Blutskirche komme ich nun an mehreren Bistros und Cafés vorbei. Hier herrscht Tourismus, die Preise sind hoch. Man sitzt auf Holzbänken und hört allerlei englische und deutschsprachige Laute. Im Inneren eines dieser Cafés, das sich, betritt man es, als regelrechtes Kellergewölbe herausstellt, feiert zu Mittag eine ganze deutsche Truppe. Ihr lautes Gegröle, das Anstoßen mit russisch gelobtem Bier bringt mich zum Lachen. Einer der Deutschen beschwert sich einige Meter weiter gerade bei einer der Kellnerinnen, dass die Speisekarten nur in russischer und englischer Sprache gedruckt seien. „Er hätte es doch verdient… Die Deutschen, sie hätten doch verdient…“

Ich ging schnell weiter.

 
Auf einmal wanken aus einer Nebengasse zwei Frauen heraus, mit tiefem Ausschnitt, eng anliegendem Kleid, den üblich sehr hohen Hakenschuhen und leicht zerwühlter Frisur. Ihr Gang wie auch ihr Aussehen sind auffällig. Sie heben sich durch ihre Freizügigkeit und das enorme Torkeln stark von der übrigen Meute ab. Sie laufen direkt vor mir.

Die Kleinere klammert sich an die Andere im roten Kleid. Sie kichern. Man sieht sofort, was sie sind. Ich überlege, was sie wohl gerade erlebt haben müssen und was, verhältnismäßig gesehen, ein Mann mit Geld doch für ein Glück hat, dass er auf so schöne Frauen steigen darf. Vielleicht hat sie irgendein reicher Sack für eine Nacht gebucht. Die Mittagszeit lässt darauf schließen, dass es sogar eine verdammt lange Nacht war.

In meinem Kopf rattern filmische Bildsequenzen, was sein könnte oder auch nicht. Sie sind beide sehr attraktiv, wären ihre Gesichter nicht so verwischt, stände in ihnen nicht so deutlich das zuvor Erlebte geschrieben, der Einfluss von Drogen, Alkohol und Rausch, die leichte Erschöpfung des Danach, die Unausgeschlafenheit, um nun gemeinsam irgendwie den Heimweg anzutreten. Die Röcke, durch die runde und feste Backen schwingen, sind leicht fleckig, ich wende den Blick verlegen ab und richte ihn auf die Vorüberkommenden.

Diese versuchen den stark schwankenden Bewegungen auszuweichen. Einige lächeln und flüstern sich etwas zu, andere blicken empört und wenden mehrmals den Kopf.

Die Frauen sind in dieser Gegend vielleicht doch auffällig genug, um selbst die Einheimischen zu irritieren, wo sie sonst kaum den Kopf heben, um einander zu betrachten. Vielleicht ist es die ungünstige Uhrzeit, vielleicht findet man solche Frauen eher an anderen Plätzen. Ich weiß es nicht, aber beide wissen sich wohl zu helfen. Wer sie auslacht, denen begegnen sie mit lallendem Spott, wer schimpft, wird in einer ruckartigen Kopfbewegung abgetan. Sie haben im Moment einander, und werden ihren Weg schon gehen.

Neben mir fährt ein riesiges Auto vor. Daraus hervor steigen zwei reiche Damen, geliftet und mit Juwelen geschmückt, und mischen sich unter die Leute. Dieser luxuriöse Wagen zwischen den anderen Wracks sticht hervor. Ich wundere mich, dass sie so einfach wagen, ihren überteuerten Schlitten dazwischen abzustellen.

 

So viele Menschen und sicherlich etliche Geschichten. Gerne würde ich mehr über die alten Blumenfrauen erfahren, die sich an den Parkeingängen und Metrohaltestellen ein paar Kröten verdienen. Die Blumen sind meist verwelkt oder eben mehrere Meter weiter im Park selbst zu finden. Doch die Leute kaufen. Der Mutter, Tochter, Großmutter, Tante, Geliebten einen Strauß mitzubringen, ist eine nette Geste und stark verbreitet. Manchmal hört man sie laut miteinander streiten. Es bleibt Kampf und Überleben. Schon als Kind sah ich etliche dieser Frauen. Sie verkaufen Blumen, Selbstgebackenes, kleine Hundewelpen.

 

Bedingungslos vorvererbt wurde mir eine zehnbändige Ausgabe von Dostojewskij in russischer Sprache. Ich werde vielleicht erst einmal mit Tschechow beginnen, da dieser einfacher schrieb. Die Buchstaben zu entziffern, die Worte im Kopf zu bilden, bis man sie deuten kann, das Ganze noch einmal für sich zu lesen, ist nicht so schwierig, wie ich es mir vorgestellt habe. Die Bücher in diesem großen Regal meiner Großmutter tragen ihre eigene Geschichte.

Durch das emsige Sammeln von Buchscheinen, die dann abgegeben nach fünf Jahren einen Band Tschechow ermöglichten, haben sich meine Großeltern ihre Bibliothek über all die Jahre langsam zusammengesucht. Für Bücher musste man Beziehungen haben. Das Dom Kniga, das heute über Etagen reich gefüllt ist, mit Moderne und Klassik auf neuem und altem Papier, führte früher in leichter Übertreibung nur Marx und Lenin Werke und vielleicht einen Band von Puschkin. Es war nicht einfach, sich Literatur zu verschaffen.

Ich habe mich immer gefragt, warum sich mir diese Sprache so tief eingeprägt hat, warum ich die Menschen nach all den Jahren immernoch verstehe, selbst reden kann. Meine Mutter hat selten mit mir Russisch gesprochen, und obwohl ich früh Russischunterricht hatte, kann eine Schule das Gedächtnis nicht so intensiv prägen.

Die Russen erwarten übrigens ganz selbstverständlich, dass man ihre Sprache beherrscht. Sie setzen es regelrecht voraus, um dich zu akzeptieren. Wenn jemand sich nicht in ihren Worten verständigen kann, findet er nicht völlig in ihren Kreis hinein. Er wird gerne eingeladen, genauso gerne angesprochen und auch ebenso gerne belächelt. Wenn man sie dagegen fragt, welche anderen Sprachen sie beherrschen, wird, genauso selbstverständlich, das Fehlen jeglicher Sprachkenntnisse mit einem Schulterzucken abgetan. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun.

Aufklärung über meine eigene Tiefverwurzelung in jener Sprache verschaffte mir schließlich meine Großmutter, weil ich, ohne es mehr zu wissen, wohl eine Zeit lang bei ihr verbracht habe. Zunächst, so erzählte sie mir, traute ich mich nicht, mich auszudrücken, wollte nicht mit anderen Kindern spielen. Ich fühlte mich alleine gelassen, meine Eltern waren gerade zu Besuch in Moskau. Ich trottete lustlos zum Spielplatz, wobei mein Großvater schreckliche Ängste ausstand, wie er es immer tat. Er hatte bei seinen eigenen Kindern oder wenn andere Kinder zu Besuch waren, immer einen längeren Hals als sonst, weil er ständig auf dem Balkon stand und nach ihnen Ausschau hielt.

„Hoffentlich passiert nichts. Hoffentlich passiert nichts!“ pflegte er dann immer zu sagen. „Wie kannst du sie nur so einfach gehen lassen!“

Meine Großmutter winkte dann ab. „Wir haben sie doch im Auge. Mach dir keine Gedanken!“

Meinen Großvater vermisse ich sehr. Seine Art, beim Essen die Menschen regelrecht zu nötigen, sich vollzustopfen, während er eine Scheibe Brot in kleine Stückchen zerteilte und mit seinem schlechten Gebiss ganz langsam kaute. Wie er im Sessel saß und eine nach der anderen rauchte, mich auf seinen Schoß hob und mir Geschichten erzählte. Wie er, selbst als er von seinem Lungenkrebs erfuhr, weiter rauchte, nicht in ein Krankenhaus wollte, sondern erklärte: „Wenn ich schon sterbe, dann dort, wo ich zu Hause bin, umgeben von den Menschen, die ich liebe!“ In diesem Sessel, von dem ich nun zwei Erinnerungen besitze, der heute nicht mehr für das Sitzen geeignet ist, ist er auch gestorben. Ich habe einiges von ihm geerbt, Essen, das wir beide mögen und sonst keiner in meiner Familie, Eigenschaften, die ich auch von ihm übernommen habe. Meine Großmutter ist so glücklich, dass ich so viel lese, wessen sie beide immer gefrönt haben, sie hat auch andere Enkel, deren Leben von starken Höhen und Tiefen geprägt ist, dass darin kein Platz für die Literatur bleibt.

Als sie eine Stunde später wieder nach mir sah, kam ich dann wohl mit einem Jungen an der Hand zurück und erklärte ihm auf Russisch die Welt. Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus mir hervor, und von da an ging ich jeden Tag zum Spielplatz.  Darüber lacht sie heute noch. Der kleine Junge wohnte im gleichen Haus, auf einer höheren Etage. Er stand dann immer vor der Tür und fragte, ob ich spielen käme, auch als ich schon längst wieder abgereist war.

An solche Situationen erinnere ich mich nicht, doch als Kind lernt man am besten. All das, was mir heute so leicht über die Lippen geht, wurde in diesem Alter vertieft.

Auch erzählte sie mir, dass ich ein russisches Kinderlied besonders mochte und es immer und immer wieder auf Schallplatte abspielte. Das wurde dann schnell zur allgemeinen Belastung, dass sie sich verzweifelt die Ohren zuhielt, zunächst darauf wartete, dass ich endlich genug bekommen würde und mich danach mehrmals bat, den Plattenspieler auszuschalten, was ich nicht tat. Die Lösung brachte mein Onkel. Er zwinkerte mir zu, ging in sein Zimmer, holte ein Paar Kopfhörer und setzte sie mir auf. So war für alle eine zufriedenstellende Lösung gefunden. Ich saß noch ganze Ewigkeiten und nickte im Takt der Musik, die Zeit der Erwachsenen wäre wohl sehr lang geworden.

 

Woran ich mich erinnere, sind die winzigen Blinies, die sie mir zum Frühstück machte, in genau derselben Küche, die mir heute so klein erscheint. Auch an gezuckerte Nudeln in Milch kann ich mich entsinnen, die ich ausspuckte und mich weigerte, aufzuessen. Ich kann mich an den Spielplatz erinnern, der vor dem Haus liegt, der jetzt durch eine bunte Rutsche bereichert ist. Oder an die Spaziergänge, an der Schule vorbei, die meine Mutter besuchte. All das findet man irgendwie wieder, wenn auch stark zusammengerückt, stark verkleinert. Die endlosen Gänge der Treppenhäuser mit den vielen gepolsterten Türen, der kaputte Fahrstuhl, die Balkone und Magazine. Die löchrigen Straßen und Trolleybusse, deren Kontaktstellen zischend aufblitzen. Die dicht besiedelten Plätze, prächtigen Anlagen und Häuser, Zarenspielereien. Das warm umfangende Sein der Menschen in ihren Alltagssorgen und flinken Schritten über Schlammwege und Widrigkeiten hinweg. Getrocknete Fische, darunter auch kleine mit Augen, die zum Bier geknabbert werden, bunte Märkte, übersüße Klumpen Halvar, Konfekt, Samoware. Sehnige Hände, die einem anderen Menschen über den Kopf streicheln, denen man ansieht, dass sie ein Leben lang harte Arbeit gewöhnt sind. Die zupacken, wenn jemand auf der Straße zusammenbricht oder zusehen, weil sie Uniform tragen. Junge Männer, die beim Gehen wie selbstverständlich in alle Ecken rotzen. Wodka, ausgeschenkt in winzigen Gläschen. Das Verniedlichen aller Namen. Gitarren, die im Zimmer an der Wand hängen. Kleine Mädchen mit übergroßen Schleifen im Haar. So manches müdes, zerknittertes Gesicht.

Es ist eine Stimmung, die sich einem tief vermittelt, aus einem ersten Schreck über den Verfall zu einer liebgewonnenen neuen Welt geraten ist, deren viele Gerüche, Menschen, Vorfälle man stark vermisst. All das hüllt einen ein, ist nicht sofort verinnerlicht, wenn man schon wieder durch die ewigen Passkontrollen muss, bei denen man ernst und unmäßig lange angesehen und mit dem Lichtbild im Pass verglichen wird. Auch im Flugzeug nicht, wenn durch die Wolken hindurch erneut ein klarer, blauer Himmel auf einen wartet, während die Landschaft sich verkleinert, die Häuser und Straßen zum Modell werden und unter ihrer eigenen Nebelschicht zurückbleiben. Es entfaltet sich erst, wenn all das weiter zurückliegt, die Menschen unerreichbar geworden sind, die Stadt aus Fotografien noch einmal geistig vor dem inneren Auge erbaut wird, wenn all das Erlebte längst zu einer Geschichte geworden ist, die sich vielleicht lohnt, erzählt zu werden.

 

 

 

 

(Ende)